Franca Buss und Philipp Müller: Die im Französischen gebräuchliche Redewendung „Je suis medusé“ gibt Zeugnis von einer intensiven Betrachteraffizierung. Seid ihr auch schon mal ‚versteinert‘ worden?
Barbara Oettl: Ja. Ich denke, dies ist jedem schon einmal passiert – sei es durch fiktionale Bilder, schreckliche Bilder aus den Medien oder durch tatsächlich Durchlittenes. Und die uns versteinernden Bilder haben immer etwas mit unserer eigenen oder der Vergänglichkeit der uns Nahestehenden zu tun. Es kann hilfreich sein, im Hinterkopf zu behalten, dass sich auch eine Versteinerung ehedem wieder lösen wird. Was für Medusa gilt, besitzt in seinen zwiegespaltenen Auswirkungen auch Gültigkeit für unser aller Werden und Vergehen: unser Fortbestand und auch der Mythos von Medusa folgen beide Male einem lebensverschlingenden wie einem lebensspendenden Prinzip.
Am Beispiel der von Geburt an missgestalteten Medusa sei daran erinnert, dass man sie erst in der Spätklassik zu einer betörenden Schönheit hochstilisierte, um dem Eifersuchtsdrama um ihre Person Rechtfertigung zu verleihen und die sich daran anschließende strafende Herabwürdigung zu einem Ungeheuer zu verschärfen: demnach hatte Pallas Athena ihr die Schlangen ins Haar gesetzt, sie mit Klauen und Reißzähnen ausgestattet und sie dazu verdammt, jeden in Stein zu verwandeln, der sie erblickte, nachdem sie Medusa in flagranti mit Poseidon ertappt hatte, der sie darüber hinaus schwängerte. Um nun wiederum Perseus aus dem Weg zu schaffen und hiernach dessen Geliebte Danaë erobern zu können, stellte Polydektes diesem die unüberwindbare Aufgabe, Medusa zu töten. Perseus gelingt das Unmögliche, indem er Medusa nicht direkt anblickt, sondern diese lediglich über das Spiegelbild in seinem Schild enthauptet. Das abgeschlagene Schlangenhaupt der Gorgone besitzt von nun an nicht mehr nur den sagenumwobenen tödlichen Blick, der das Gegenüber versteinert, sondern verkehrt sich in sein Gegenteil und wird zum lebensspendenden und schützenden Apotropäum: das Medusenhaupt gebiert einmal Poseidons Nachwuchs, das geflügelte Pferd Pegasus, zum anderen dient es Pallas Athena und Perseus als Schutzschild und als Waffe. Nachdem etwa Perseus die an einen Felsen gekettete Andromeda erfolgreich befreit hatte und sich die Hände waschen will, legt er das schlangenhaarige Haupt der Medusa am Meeresstrand nieder. Um es vor Beschädigungen zu schützen, polstert er den Boden mit Blättern und Wasserpflanzen. Die frischen und lebensdurstigen Seepflanzen saugten daraufhin die magischen Fähigkeiten des Hauptes der Phorcystochter in sich auf, um sogleich so hart wie Stein, zu blutroten Korallen zu werden. Die Koralle, welche unter dem Wasserspiegel weich und biegsam ist, wird in einer Metamorphose zu einem erstarrten Skelett. Ob ihres mythischen Entstehens mit wundersamen Kräften versehen, wird Kindern oft eine Korallenkette umgehängt, in pulverisierter Form dient sie als Medikament und auch in Darstellungen des Jesuskindes sieht man die Koralle als Attribut, welches zugleich auf die heilenden und apotropäischen Fähigkeiten Christi als auch auf dessen spätere Passion verweist. Sofern wir einem sehr einseitig motivierten Gender-Verhalten verhaftet bleiben wollen, so ist es Medusa, welche die Männer versteinert, und der Korallenschmuck, der von männlicher Seite an die Frau zurückgereicht wird. Und so beginnt der gefahrvolle, wenngleich besänftigende und bewegte Kreislauf auf ein Neues.
Was sowohl bezüglich unseres Daseins als auch im Falle Medusas oftmals in Vergessenheit gerät, ist, dass sich Leben und Sterben in ihrer Ambivalenz gegenseitig bedingen und beides einer existenzfördernden Notwendigkeit folgt. Als die einzige Sterbliche unter ihren Geschwistern ähnelt Medusa dem Rabelais’schen Weltbild eines kosmischen und in Zyklen verlaufenden Formwechsels, welcher – laut Michail Bachtin – „beide Pole der Veränderung, das Alte und das Neue, das Sterbende und das Entstehende, den Beginn und das Ende der Metamorphose“ darstellt (Rabelais und seine Welt, S.75).
Matthias Schulz: Versteinerungserfahrungen dieser Art haben mich gewissermaßen in das Studium der Kunst- und Bildgeschichte getrieben. Jeder von uns hat sie wohl auf die eine oder andere Art gemacht. Mich fasziniert bis heute das Kuriosum, das Bilder vermögen, was wir sonst nur aus der Interaktion mit Menschen kennen. Bilder können uns die Augen öffnen, sie können also Erkenntnis generieren, sie können Hoffnung schenken, einen Glauben erwecken, sie können inspirieren und herausfordern, provozieren und erschrecken, positive und negative Emotionen jeder Art auslösen. Sie können nicht zuletzt den Blick auf uns selbst, andere und die Welt verändern und in nicht wenigen Fällen tun sie das stückweise, unbemerkt und über lange Zeiträume hinweg. Dass der Mensch ein Wesen ist, das man als ein animal symbolicum als homo pictor oder homo narrans beschrieben hat, und dass er sich in einer kulturellen Matrix bewegt, die ihn dadurch Identität gewinnen lässt, dass er mit und durch Bilder sich selbst findet und stabilisiert, ist eine der faszinierendsten Eigenschaften unserer Spezies.