L.I.S.A.: Metalmusik wird vor allem von weißen, männlichen Arbeitern konsumiert.“ Soweit jedenfalls die typischen Stereotype. Können Sie diese Einschätzung bestätigen?
Dr. Swiniartzki: Hier lässt sich an die vorherige Frage anschließen: Ich halte es für unhaltbar, die Entstehung einer musikalischen Kultur pauschal als Funktion einer strukturellen Erosion einer „Klasse“ und ihres Männlichkeitsideals zu beschreiben, wie dies etwa für die „grande dame“ der „Metal Studies“, Deena Weinstein, gilt, deren Gründungsnarrativ zwar nicht mehr im Forschungsfeld, aber in weiten Teilen der Presse dominiert. Dem liegt die romantische Vorstellung einer homogenen „working class“ und ihrer „working class culture“ zugrunde, die sich bereits mit einem kurzen Blick auf die Arbeits- und Familienverhältnisse der frühen englischen Bands wie Black Sabbath aus Birmingham entkräften lässt. Bestünde hier ein Kausalzusammenhang, wäre es unerklärlich, warum „neun von zehn“ männlichen Arbeitern niemals Metal hörten und auch unter den jugendlichen Arbeitern Metal keinen Absolutheitsanspruch behaupten konnte. Ich denke, dass die Erzählung vom Heavy Metal als „working class“-Phänomen besonders dem Umstand zu verdanken ist, dass entscheidende Regionen der Metal-Kultur wie die englischen West Midlands oder das Ruhrgebiet in den 1970er und 1980er Jahren klassische Industriegegenden „unter Druck“ waren, wodurch allzu leicht der Trugschluss entstand, die Musik eines Teiles der Jugend von dort müsse etwas mit rauchenden Schloten und Fördertürmen zu tun haben. Viel eher verzeichneten diese Regionen einen hohen Anteil einer jugendlichen Bevölkerung, die sich in geregelten Arbeitsverhältnissen sowohl zeitlich wie finanziell die Ausübung eines musikalischen Hobbys leisten konnte. Darüber hinaus wiesen sie eine gute Infrastruktur auf, durch die Konzerte, Proben und das gemeinsame Verbringen von Zeit außerhalb der Elternhäuser ermöglicht wurde. Die Mehrheit der Musiker aus solchen Szenen hatte daher freilich einen Hintergrund in der „Arbeiterklasse“ – aber vor allem, weil sie in ihren Regionen die große Mehrheit der männlichen Jugendlichen ausmachten. Dies bedeutet nicht, dass Metal-Musik in Birmingham oder Essen nicht etwas mit Entfremdung oder Ekel gegenüber der tristen Umgebung oder Arbeit zu tun haben konnte – doch war der sozioökonomische Status keine conditio sine qua non für Heavy Metal. Denn verglichen mit anderen wichtigen Metal-Szenen wie etwa der kalifornischen Bay Area oder den Death- und Black Metal-Zentren in Stockholm, Göteborg, Tampa/Florida oder Oslo wird schnell deutlich, dass es keiner Arbeiterklasse-Jugend bedurfte, um Metal zu spielen oder zu hören. Auch die Mittelklasse-Jugend fand genügend Gründe, sich für brutale Musik zu begeistern. Die regionalen Differenzen beschreiben den Metal und sein Sozialsystem also weniger als Klassen- denn als Krisen-Kultur, wobei dies ausdrücklich nicht ökonomisch dominiert sein musste. Auch der reine Distinktionswunsch gegenüber einer als stumpf postulierten Mehrheitsgesellschaft und/oder anderen Musik-Szenen, die Langeweile in gutsituierten Vororten oder schlicht der Widerwille, in die Fußstapfen der Eltern zu treten, konnten ein subjektives Krisengefühl hervorrufen, das sich musikalisch gut kanalisieren ließ und auf dessen Grundlage man sich hervorragend vergemeinschaften konnte.
Es erscheint mir wichtig, die Metal-Kultur hinsichtlich der drei genannten Attribute „weiß“, „männlich“ und „proletarisch“ als Geschichte einer langsamen Öffnung zu verstehen, deren Beginn sich vor allem auf die 1980er Jahre datieren lässt. Denn obgleich sich – wie oben skizziert – der Metal nicht deterministisch aus proletarischen Traditionen herleitete, überwog dennoch in den 1970er und frühen 1980er Jahren ein ökonomischer Krisenbegriff, der sich in individualisierten Lebenswegen der Musiker niederschlagen konnte und Fans einer ähnlichen Herkunft mit der Musik verband. Dass sich dabei fast ausschließlich weiße und männliche Jugendliche angezogen fühlten, hatte mit verschiedenen Faktoren zu tun: der Vergemeinschaftung von Bands und Unterstützern durch männliche Freundes- und Bekanntenbeziehungen, traditionellen Rollenbildern der Geschlechter, die durch die Elternhäuser und Arbeitsverhältnisse verlängert wurden und sich erst langsam veränderten, sowie einer partiellen ethnischen Segregation der Jugendgruppen durch Arbeit, Wohnen, Schule und Musik.
Die durch die New Wave of British Heavy Metal um 1980 angestoßene Differenzierung der Metal-Kultur in einerseits massenkompatiblere und andererseits extremere Spielarten brachte schließlich große Bewegung in das Heavy-Metal-Sozialsystem der 1970er Jahre. Während der Glam-Metal des Sunset Strips in Los Angeles vielen weiblichen Jugendlichen den Einstieg in die Metal-Kultur ermöglichte, distinguierten sich vermehrt die männlichen Jugendlichen im Thrash Metal, der seine Zentren in der Bay Area of San Francisco und im Ruhrgebiet hatte. Kennzeichen beider Metal-Regionen war eine beginnende Inklusion ihrer ethnischen und kulturellen Vielfalt, indem afroamerikanische, indigene und hispanische bzw. polnisch-, italienisch- und griechisch-stämmige Musiker und Fans den Weg in die Metal-Kultur fanden. Ohne diese Entwicklung hier zur Gänze weiter beschreiben zu können, soll darauf verwiesen werden, dass sich die Anzahl weiblicher Fans seit dem zwar massiv erhöht hat und sich die ethnische Zusammensetzung der Metal-Szenen der ethnischen Zusammensetzung ihrer jeweiligen Regionen annähert, aber weibliche und nicht-weiße Musiker immer noch eine große Ausnahme in der Metal-Kultur darstellen.
Dr. Marco Swiniartzki hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.