L.I.S.A.: Der Raum, den sie betrachten, lag für alle Anrainerstaaten in der Peripherie ihres Einflussbereichs, aber gleichzeitig auch an einer Konflikt- und Grenzlinie zwischen ihnen. Greifen wir Russland heraus: Wie wurde versucht, staatliche Kontrolle herzustellen und aufrechtzuerhalten und was änderte sich beispielsweise durch die russische Revolution? Unterschied sich die russische Herangehensweise signifikant von der amerikanischen?
Prof. Kindler: Wie bereits angedeutet, befanden sich russländische Behörden in einem ständigen Zwiespalt zwischen eigenen Ansprüchen der Herrschaftsdurchsetzung und begrenzten Mitteln zu ihrer Realisierung; ich habe diesen Zustand versucht, mit dem Begriff der „fragmentierten Autorität“ zu beschreiben. Dabei geht es einerseits um punktuelle Interventionen und Konfrontationen, um nach außen hin Stärke zu demonstrieren; etwa in der Auseinandersetzung mit kanadischen oder japanischen Robbenfängern, die vor der russischen Küste Pelzrobben jagten. Andererseits beschreibt der Begriff die Schwäche im Inneren; mit einer Handvoll Beamter und Soldaten ließ sich kein „Staat machen“. Die Geschichte des ausgehenden Zarenreiches am Nordpazifik lässt sich daher aus der Perspektive der russischen Bürokratie als eine Geschichte beständiger Defiziterfahrungen beschreiben. Doch das wäre nicht einmal das halbe Bild: Vielmehr versuche ich herauszustellen, dass relative soziale und ökonomische Stabilität das Resultat intensiver transnationaler Verflechtungen waren und russische Präsenz auf Kamtschatka oder den Kommandeurinseln in ein vielfältiges Netz von Verbindungen eingebunden war.
Nach dem Ende von Revolution und Bürgerkrieg änderte sich dies in der frühen Sowjetunion nur allmählich. Die Bolschewiki hatten zwar sehr weitgehende Vorstellungen, was die Unterwerfung und Neuordnung von Menschen und Natur anging, doch auch sie mussten die Erfahrung machen, dass Herrschaftsanspruch und -durchsetzung zwei sehr unterschiedliche Dinge waren. Die sowjetische Kontrolle über Ressourcen und Bevölkerungen war auch gleichbedeutend mit dem Ende zahlreicher transnationaler Verbindungen; eines der Resultate dieser relativen Selbstisolation bestand in der weiteren Verarmung großer Teile der Bevölkerung.
Die Entwicklung auf den US-amerikanischen Pribilof-Inseln war in vielerlei Hinsicht nicht nur eine Parallelgeschichte, sondern Vorbild für die Situation auf den russischen Kommandeurinseln. Auf beiden Archipelen hatte die ACC nach 1870 ähnliche Infrastrukturen geschaffen, das Robbentöten entlang ähnliche Vorgaben optimiert und auch die Situation der hier lebenden Aleutinnen ähnelte sich: Auf beiden Inselgruppen wurden sie vor allem als Arbeitsbevölkerung gesehen, der allenfalls begrenzte Rechte zugestanden wurden. Man kann mit Blick auf diese Bevölkerungen davon sprechen, dass es sich bei den „Robbeninseln“ um totale Institutionen handelte.
Die Entwicklungswege beider Inseln trennten sich insofern, als sich die ökonomische Situation der pribilovians zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich besser entwickelte als jene der komandorcy. Dies hing direkt mit den sehr unterschiedlichen Möglichkeiten des US-amerikanischen und des russischen Staates zusammen, Grenzen und Ressourcenausbeutung zu kontrollieren.