L.I.S.A.: Die Architektur spiegelte bereits früh soziale Hierarchien wieder, in erster Linie durch die Tribünen für das Bürgertum. In welchem Zusammenhang stehen diese Entwicklungen zu zeitgenössischen Visionen von der egalitären Funktion des Sports?
Prof. Dinçkal: Nun, es ist ja nicht so, dass der Sport an sich eine egalitäre Funktion innehatte. Wesentlich ist, dass ihm eine solche Funktion zugesprochen wurde. Dass das Stadion eine Art sozialer Schmelztiegel ist, der Sportkonsum klassenübergreifend gemeinsame Erfahrungen ermöglicht, scheint in der Weimarer Republik beinahe unumstritten gewesen zu sein. Nach diesen Erzählungen begegnen sich im gemeinsamen Erleben des Sports die Angehörigen verschiedener Generationen, Berufe und Klassen im Stadion und erfahren sich als Glieder einer Gemeinschaft, wobei die sonst allgegenwärtigen sozialen oder kulturellen Schranken in den Hintergrund treten. Die Basis dieser Vergemeinschaftungsnarrative bildet die Annahme, dass der Sport die Menschen im Stadion einander nicht nur räumlich, sondern auch sozial näher bringe.
Dennoch lässt sich meines Erachtens aus einer räumlichen Nähe nicht automatisch eine soziale Nähe ableiten. Ganz im Gegenteil: Vielmehr ging das gemeinsame Interesse am Sport mit einer räumlichen Differenzierung im Stadion, um Abstand und Distinktionsmerkmale herzustellen. Mehr noch, erst das Stadion machte durch räumliche Segregation soziale Differenzen innerhalb des Sportpublikums sichtbar und generierte neue Formen der Distinktion im Sportkonsum. In dieser Hinsicht war das Stadion ein Raum, in dem Nähe und Distanz, Zusammengehörigkeit und Unterscheidung verhandelt, inszeniert und vermittelt wurden. Man sah und konsumierte das Gleiche innerhalb eines geschlossenen baulichen Rahmens, aber räumlich segregiert, auf unterschiedliche Art und Weise, unter verschiedenen Bedingungen und mit anderen Bedeutungen versehen.
Man kann dies gut anhand der Tribünenbauten und Logenplätzen zeigen. Alle größeren Stadien der Weimarer Zeit hatten Tribünen vorzuweisen, auf denen ein ausgewähltes Publikum Platz nahm. In ihrer erhöhten Lage war sie sowohl ein Ort privilegierten Zuschauens, eine besondere Aussichtsplattform, als auch ein Ort, der den Blicken anderer Zuschauer in besonderer Weise ausgesetzt war, eine Ansichtsplattform. Insbesondere die Loge diente ähnlich der Promenade als soziale Bühne für das Spiel des Sehens und des Gesehenwerdens. Logen mussten sich durch Geräumigkeit auszeichnen, damit die Gäste untereinander die Plätze wechseln und sich unterhalten können. Soziale Differenzierung zeigt sich hier durch den Anspruch auf Privatheit und gepflegte Geselligkeit einerseits, und andererseits durch die Möglichkeit, zu Personen, mit denen man keinen unmittelbaren Kontakt wünschte, Distanz zu wahren.
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wie würden sie denn Aussagen wie "neue Formen der Distinktion im Sportkonsum", "neue Form des Massenerlebens" oder schon in der Frage "Sie zeigen, wie diese neue Form des Sportkonsums im Stadion erst erlernt werden musste." die in der Antwort ja nicht widerlegt wurde denn beschreiben? Auch sonst habe ich den Eindruck, es würde etwas gänzlich Neues beschrieben werden. Daß es natürlich auch gravierende Unterschiede gab ist schon logisch, nach zum Teil Jahrtausenden. Und die Lager bei den byzantinischen Wagenrennen waren eher weniger religiös als politisch aufgeladen. Überhaupt - und ich muß gestehen, ich bin hier alles andere als ein Fachmann, erscheint mir eher der antike griechische Sport religiös konnotiert, bei den Römern war das weitaus profander. Über die beteiligte Alltagsreligiosität hinaus. Aber die gibt es heute auch, wenn man an das Bekreuzigen von Sportlern vor ihrem Einsatz denkt. Ohne Sportwissenschaftler zu sein habe ich den Eindruck, daß Mannschafts- und Seitenbildung ein Teil des Sports ist.
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woran machen Sie denn genau fest, dass Herr Dinçkal behauptet, etwas Neues sei entstanden? Im Übrigen unterscheiden sich die antiken Körperpraktiken doch mindestens in einem Punkt wesentlich vom Sport der Weimarer Republik oder des Kaiserreichs - in der Antike waren diese Praktiken, soweit ich informiert bin, sehr deutlich in bestimmte, religiös-sakrale Ritualhandlungen eingebettet.
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