L.I.S.A.: Wie wird die Debatte um den Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Großbritannien geführt? Gibt es dort auch Tendenzen zu einer Neubewertung der Ereignisse?
Dr. Mombauer: In Großbritannien findet eine andere Debatte statt. Hier streitet man sich darüber, wie man nach hundert Jahren am besten an den Krieg erinnern soll. Das britische Bild des Ersten Weltkrieges ist geprägt von Eindrücken von der Westfront, von Schützengräben, Schlamm und dem Leid der Soldaten. Der Krieg ist hier, anders als in Deutschland, seit hundert Jahren konstant präsent, besonders im November, wenn man sich im ganzen Land am Remembrance Day an den Ersten Weltkrieg erinnert.
In den letzten Wochen wird in Großbritannien diskutiert, ob dieser Krieg vermeidbar gewesen war, und speziell, ob Großbritannien zwangsläufig kämpfen musste, oder ob es für die Briten nicht besser gewesen wäre, neutral zu bleiben. Überspitzt gesagt ist doch so oder so heute Deutschland in der EU dominant – waren dann die vielen Opfer nicht sinnlos, wenn letztendlich doch sowieso Deutschland die Vormachtstellung in Europa erreicht hat? Hätte man 1914 nicht einfach neutral bleiben sollen, und den Kontinent sich selber überlassen können?
Das Argument, dass die Londoner Regierung sich aus dem Krieg hätte heraushalten können, basiert meiner Meinung nach auf einer Unterschätzung des deutschen Kalküls. Man hatte schon seit Jahren eine Flotte gegen England gebaut, und viele in der Berliner Regierung und unter den führenden Militärs sahen in England den wahren Feind. Ohne die Truppen des British Expeditionary Corps hätte Frankreich wahrscheinlich die Marneschlacht verloren und wäre besiegt worden. Die Großbritannien gegenüberliegenden Kanalseite wäre in die Hand einer feindlichen Macht gefallen, Großbritannien hätte isoliert dagestanden, und Deutschland hätte – einen weiteren Sieg gegen Russland vorausgesetzt – die Hegemonialstellung auf dem Kontinent erreicht. Die sogenannte ‚balance of power‘ wäre dahin gewesen. Man konnte natürlich nur spekulieren, was ein siegreiches Deutschland als nächstes getan hätte. Dass es sich nach einem erfolgreichen Kontinentalkrieg mit einer sekundären Rolle zufriedengegeben hätte ist allerdings unwahrscheinlich (dagegen spricht nicht zuletzt das sogenannte Septemberprogramm in dem Bethmann Hollweg großspurige Kriegsziele formuliert hatte). Großbritannien kämpfte deshalb um seine internationale Vormachtstellung. Oder umgekehrt – so musste man in London planen – hätten Frankreich und Russland es geschafft, Deutschland alleine zu besiegen, so stand auch dann Großbritannien isoliert da, hatte es doch seine Entente-Partner im Stich gelassen. Was würde aber ein siegreiches Russland als nächstes tun? Wie konnte London sein Empire, und vor allem Indien, vor einem erstarkten und jetzt feindlichen Russland beschützen?
Es gab für die damals herrschenden Vorstellungen für Großbritannien eigentlich keine Alternative. Es ging in London nicht wirklich um Belgien, sondern um den langfristigen Schutz der britischen Weltmachtstellung. Paradoxerweise war es Großbritannien, welches als einzige Großmacht kein festes Bündnis in Europa eingegangen war, das doch aus Bündniszwang in den Krieg eintreten musste – denn es konnte es sich nicht leisten, seine Entente-Partner nicht zu unterstützen.
In Großbritannien ist die jüngste Debatte aber auch von Sensibilitäten gegenüber der Bundesrepublik geprägt. Man fühlt, wie peinlich es den Briten ist, dass man im Erinnern an den Krieg eben auch die Schuldfrage stellen muss. Wie kann man zur Hundertjahrfeier an den Krieg erinnern, ohne dabei von der vermeintlichen Kriegsschuld der Deutschen zu sprechen, die in Großbritannien weniger in Frage gestellt wird als zurzeit in Deutschland. Und so vermischen sich die Schuldfrage und die Frage nach der angeblichen Sinnlosigkeit des Krieges. In der öffentlichen Debatte, in der Politiker und Historiker sich über den britischen Kriegseintritt streiten, kam auch der Premierminister zu Wort, der das Thema diplomatisch geschickt auf den Punkt brachte: ‚Wir sollten klar sagen, dass der Erste Weltkrieg für einen gerechten Grund geführt wurde, dass unsere Vorfahren glaubten, es wäre schlecht, ein von Preußen dominiertes Europa zu haben, und deshalb kämpften sie.‘
Er nennt zwar Preußen, meint aber natürlich Deutschland. In Großbritannien ist halt Clarks These nur eine von vielen, die in den neuesten Veröffentlichungen diskutiert wurden. Max Hastings („Catastrophe“) hält konsequent dagegen (und entpuppt sich dabei als kategorischer als Fritz Fischer, was die deutsche Kriegsschuld anbelangt), und Margaret MacMillan sieht Deutschland klar unter den Verantwortlichen. Sowohl in Großbritannien als auch in Deutschland ist der Markt neuerdings überschwemmt von Büchern zum Ersten Weltkrieg. Wirklich viel Neues sagen sie nicht, aber sie haben in beiden Ländern eine öffentliche Debatte entfacht, wie es sie seit dem 50. Jahrestag des Krieges nicht mehr gegeben hat. Dabei sind wir nach hundert Jahren von einem Konsens weiter entfernt als schon lange nicht mehr.