Heute vor 89 Jahren - am 1. Mai 1929 - wurde Ralf Dahrendorf geboren. Der 2009 verstorbene Intellektuelle und Sohn eines SPD-Politikers gilt heute als unabhängiger Geist und Vordenker der Liberalen: Während des Krieges engagierte er sich im Widerstand, später schloss er sich erst der SPD, dann der FDP an. In den 1960er Jahren diskutierte er mit Rudi Dutschke, Mitte der 70er wurde er Direktor der London School of Economics and Political Science. An gesellschaftlichen Entwicklungen war er stets beteiligt. Betrachtet man Dahrendorfs Leben rückblickend, erscheint es umso verwunderlicher, dass eine Gesamtbiografie bislang ausblieb. Diese Forschungslücke schloss Franziska Meifort, die zu Dahrendorf promovierte und im letzten Jahr eine Biografie veröffentlichte. Wir haben Sie um ein Interview gebeten und Fragen nach seinem Einfluss auf den Liberalismus, aber auch seiner Rolle als Wissenschaftler und Soziologe gefragt.
"Ein Prisma, durch das sich viele Aspekte der Geschichte der Bundesrepublik auffächerten"
L.I.S.A.: Was hat Sie motiviert, sich mit Ralf Dahrendorfs gesamter Biografie zu beschäftigen? Welche Vorüberlegungen gehen Ihrem Projekt voraus?
Dr. Meifort: Zunächst einmal fand ich Ralf Dahrendorf als Person spannend. Er hat ein so vielseitiges und facettenreiches Leben gelebt und war in ganz unterschiedlichen Positionen in der Bundesrepublik und in Großbritannien tätig. Er war Soziologe, Bildungsreformer, Politikberater, Politiker, Wissenschaftsmanager, Wirtschaftsberater und Publizist. Was mich aber am meisten fasziniert hat, war seine Rolle als öffentlicher Intellektueller, die er nahezu sein ganzes Erwachsenenleben lang ausgefüllt hat. Bereits als Jugendlicher hat er nach Kriegsende in Radiodiskussionen des Nordwestdeutschen Rundfunks mitgewirkt und bis zu seinem Tod im Jahr 2009 hat er immer wieder zu gesellschaftspolitischen Themen öffentlich Stellung bezogen.
Ich wollte wissen: Wie schafft es jemand, immer wieder und über einen so langen Zeitraum in der öffentlichen Debatte präsent zu sein und sie zum Teil sogar mitzubestimmen? Welche – inneren und äußeren – Voraussetzungen sind dafür nötig? Also welchen Antrieb hatte Dahrendorf selbst, sich an Diskussionen zu beteiligen und was war das soziale und kulturelle Kapital, dass ihn als Intellektuellen legitimierte? Und welche Strategien verfolgte er, um seinen Ideen Gehör zu verschaffen?
In zeithistorischer Perspektive erschien mir Dahrendorf zudem wie ein Prisma, durch das sich viele Aspekte der Geschichte der Bundesrepublik auffächerten. Um nur ein paar Beispiele zu nennen: die Neugründung der Soziologie in den fünfziger Jahren, die Bildungsreform und Planungseuphorie in den Sechzigern, die Studentenbewegung um 1968, der Machtwechsel 1969, die Europapolitik, die „Tendenzwende“ der siebziger Jahre, die Diskussion um den Sozialstaat in den neunziger Jahren oder auch die Debatte um den Kriegseinsatz im Irak 2003 – Dahrendorf hat da überall „mitgemischt“.