Der Erste Weltkrieg ist lange her; was einst Begeisterung, Schrecken, Schmerz und Illusion war, ist inzwischen Geschichte geworden. Die hundertste Wiederkehr jenes 4. Augusts, an dem der Krieg ausbrach, wird aber der “Urkatastrophe” des 20. Jahrhunderts neue Aktualität bescheren. Wie war es möglich, dass sich vor hundert Jahren die reichsten und mächtigsten Nationen der Welt über Nacht in einen barbarischen Krieg stürzten, der eine ganze Generation junger Männer im Trommelfeuer der Kanonen und Maschinengewehre verbluten ließ und unsägliches Leiden über die darbende und frönende Zivilbevölkerung brachte?
Zu den Erklärungsmustern der Historiker gehört die etwas schlampige aber nicht ganz falsche Behauptung, dass es sich um den ersten “Medienkrieg” der Geschichte handelt. In der Tat wird niemand bezweifeln, dass die Zeitungspresse in diesem zunehmend “totalen”, alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisierenden Kriegsgeschehen entscheidend zur Modellierung der Mentalitäten beitrug, ohne die der europäische Suizid schnell ein Ende gefunden hätte. Entsprechend sind “Zensur” und “Propaganda” zu wichtigen Forschungsthemen geworden – doch merkwürdigerweise hat man sich kaum für die Bildpresse interessiert, deren Rolle schon deshalb beträchtlich war, weil sie so ziemlich alle soziale Schichten erreichte, gerade auch diejenigen, die Schriftliches ignorierten. Für das heute kaum noch begreifliche “Durchhalten” trotz der horrenden, unerbittlich eskalierenden Opfer an der militärischen und zivilen Front waren die Bildmedien mit ihrer stärker emotional denn rational wirksamen Rhetorik vielleicht bereits wichtiger als das, was im Buchstabendruck publiziert wurde. Doch nur der Film ist Gegenstand eingehender Forschungen geworden, wogegen die Bildreportage nur marginale Beachtung fand. Der Grund für die merkwürdige Widerwilligkeit gegen ernstliche Beschäftigung mit den Illustrierten der Kriegsjahre dürfte einerseits in der bis heute nachwirkenden Desillusionierung der europäischen Gesellschaften liegen, die in den 1920er Jahren allmählich erfuhren, wie schrecklich der Krieg tatsächlich gewesen war, d.h. wie viel des Horrors die Presse verschleiert hatte. Kaum davon zu trennen ist aber auch der Faktor des enttäuschten Voyeurismus: Wer an die spannende mediale Vermarktung des Zweiten Weltkriegs in Fernsehen und Bilderbüchern gewöhnt ist, würde sich für die Illustrierten des Ersten Weltkriegs wohl auch dann kaum stärker interessieren, wenn sie weniger rigoros zensiert worden wären und die ästhetische Frisierung genossen hätten, die später zur Norm der Bildreportage werden sollte.
Trotzdem verwundert, dass in unserem Zeitalter der Bildanthologien zu allen möglichen historischen Themen noch nie ein Überblick über die Bildreportagen des Weltkriegs publiziert worden ist. In den zuständigen akademischen Bereichen (Geschichte, Pressegeschichte, Fotogeschichte) gibt es nur vereinzelte, kärgliche Ansätze zur Aufarbeitung dieses wichtigen Materials, aber fast nur in engem nationalen Rahmen, ohne Berücksichtigung des internationalen Dialog- und Konkurrenzaspekts, der viele dieser Reportagen überhaupt erst verständlich und interessant macht. Zusätzlich sind in den letzten Jahrzehnten mehrere populärer Bilderbücher erschienen, die den Gesamtverlauf des Ersten Weltkriegs nachzeichnen; kein einziges stützt sich aber zu mehr als 5-10% auf das Bildreportage-Material der Kriegszeit, das die nationalen Mentalitäten prägte. Derartige Bände basieren auf privaten Sammlungen, staatlichen Archiven, kommerziellen Bildagenturen, usw., die zwar zu jedem Kriegsaspekt diverses Material anzubieten haben – doch wird bei der Verwendung dieser Bilder zur Rekonstruktion der einstigen Kriegswirklichkeit immer vergessen, dass sie in den Kriegsjahren meist gar nicht öffentlich bekannt und wirksam waren. Militärische Aufklärungsfotos oder Amateur-Schnappschüsse besaßen sicher kein breites Publikum, und auch aus der Masse des einst von staatlichen und privaten Bildagenturen vertriebenen Materials ist nur ein geringer Prozentsatz tatsächlich im Druck erschienen und öffentlich relevant geworden.
So wird der Weltkrieg heute nicht nur in Bildbänden fürs breite Publikum, sondern auch in der Spezialforschung weitgehend anhand von Bildquellen beschränkter Bedeutung und Aussagekraft abgehandelt – denn da sie meist aus den ehemaligen zeitgenössischen Kontexten herausgerissen, unvollständig erhalten und mangelhaft identifiziert sind, lassen diese Quellen den Benutzer oft an entscheidenden Stellen im Stich und haben viele irrtümliche Lesungen provoziert. Natürlich können sie wichtige Einsichten vermitteln, sind aber nicht mit Bildmaterial zu verwechseln, das seinerzeit bekannt war und Geschichte machen konnte. Trotz der die Kriegstatsachen verschleiernden Zensureingriffe bieten dagegen die europäischen Illustrierten einen materiell vollständig erhaltenen und chronologisch-thematisch lückenlosen Quellenbestand, der dank der journalistischen Texteinbindung eine vergleichsweise sehr zuverlässige und ergiebige Auswertung gestattet.
Damit ist der Kernpunkt des Buchprojekts berührt. Hier geht es nicht um die Publikation von Bildern, die den Weltkrieg bloß posthum als abgeschlossene Ereigniskette nachzeichnen, sondern vielmehr um Bildreportage als gezielten, parteiischen Eingriff ins laufende Kriegsgeschehen – d.h., als Instrument der Gestaltung von Geschichte. Wer heute historische Bilder analysiert, geht in der Regel immer noch von der konventionellen Frage aus, welche historischen Tatsachen, welche einstige Wirklichkeit ein gegebenes Bild spiegelt – wogegen unsere Erfahrung mit den modernen Bildmedien keinen Zweifel lässt, dass Bildbotschaften immer zugeschnitten, Meinungen durch sie immer manipuliert und damit die historischen Prozesse in immer neue Richtungen gelenkt werden. Für den Ersten Weltkrieg kann das durch den internationalen Vergleich des Reportagematerials überzeugend demonstriert werden. Wo traditionelle Bildbände mit ein paar nicht kontextualisierten Bildzitaten unbekannter Herkunft behaupten “So sah die Belgieninvasion aus”, legen die zeitgenössischen Fotoreportagen, als historische Interventionen ernst genommen, den Schluss nahe “Mit solchen Bildern wurde in Frankreich gegen die deutsche Invasion Stimmung gemacht” und “Diese Gegendarstellung haben die Deutschen in Umlauf gebracht”. Derart vergleichendes Vorgehen macht die höchst divergenten nationalen Spielarten von medialer Vermittlung und Öffentlichkeitsstiftung im Krieg fassbar. So wie jedes Land seine eigenen Waffensysteme ausbildete, etablierten sich auch ganz verschiedene Medienkulturen, die verschiedene nationale Kriegsmentalitäten hervorbrachten und im neutralen Ausland unterschiedliche Resonanz auslösten; die kriegsentscheidende Aufgabe der amerikanischen Neutralität hätte sich z.B. wohl durch bessere deutsche Pressearbeit verhindern lassen. Kurzum, parallel zum Grabenkrieg lief ein Medienkrieg, der Kriegsausgang und Friedensregelung wesentlich mitbestimmt hat, aber in seiner bildjournalistischen Dimension bislang nur höchstens fragmentarisch wahrgenommen wird.
Tendenziell funktioniert Wissen durch Bilder anders als Wissen durch Texte. Wer in historischen Bildern nach neuen Daten und Fakten fahndet, findet sich oft enttäuscht – denn was man da sieht, scheint zumindest auf den ersten Blick immer schon aus der Geschichtsschreibung bekannt zu sein. Aber wer sich mit Geschichte befasst, sammelt nicht nur Daten und Fakten, sondern will vergangene Wirklichkeit verstehen, versucht sich “ein Bild zu machen”, wie eine geläufige Redewendung besagt. Indem Gemälde oder Fotografien gelebte Situationen schnell erfassbar vorführen, bringen sie die Menschen im Bild auf eine Ebene mit den Menschen vor dem Bild, regen zu starken imaginativen Reaktionen und Identifikationen an, produzieren ein bewegendes, emotionales Wissen. All das trifft letztlich auch zu wechselnden Graden auf historische Texte zu, und es gibt viele schriftliche Reportagen, die uns stärker ansprechen als das daneben abgedruckte Pressefoto. Trotzdem ist wahr, dass der Imaginationsmotor im Kopf vor allem vom Treib- oder Triebstoff der Bilder in Gang gehalten wird. Von der Psychoanalyse weiß man, dass individuelle Identität durch imaginäre Prozesse, Projektionen und Idealisierungen geformt wird, immer begehrt und nie ganz einlösbar. Für die Kristallisierung unserer historischen, nationalen und geschlechtlichen Identität leisten demnach eher Bilder denn Texte der von “uns” oder den “anderen” einst gewonnenen Schlachten, der Beispiele vorbildlichen männlichen oder weiblichen Handeln, der historischen Licht- oder Schreckensgestalten den entscheidenden Beitrag zu unserer Selbstverortung im historischen und sozialen Raum.
Auf das hier vorgelegte, auf 12,000 Illustrierten-Scans aufgebaute Forschungsprojekt angewendet: Die Bildreportagen der Jahre 1914-18 haben nur wenige bislang unbekannte Daten und Fakten im engen Sinn anzubieten, zeigen insgesamt aber doch einen anderen Krieg als den, dem man in den historischen Handbüchern und gängigen Bildbänden begegnet – z.B. ist bisher die starke Mitsprache von (bild)publizistischen Zwängen in der militärischen Planung der alliierten Armeen kaum thematisiert worden, noch hat man erkannt, wie rigoros dagegen der deutsche Generalstab den Krieg mittels Informationsverknappung zur Privatsache der Kommandeure stempelte. Aufgrund der Bildreportagen erhalten an sich bekannte historische Episoden auch eine neue Gewichtung und emotionale Relevanz. Etwa die englische “Hungerblockade”: Dass die völkerrechtswidrige Abdrosselung von Lebensmittelimporten Hunderttausende von Opfern in Deutschland und Österreich forderte, wird zwar fußnotenartig in der Kriegsliteratur angemerkt, ist aber gebildeten Mitteleuropäern heute nicht geläufig – besser als Texte können die Bildexzerpte aus den zeitgenössischen Illustrierten daraus ein aktives, weil emotional virulentes Wissen und Gedenken machen. Ein anderer Krieg, ein anderes Wissen: das hat die Lektüre der Bildreportagen des Weltkriegs zu bieten, wenn man beginnt, sie als historische Quelle ernst zu nehmen.
Im Folgenden werden aus dem laufenden Forschungsprojekt einige Highlights von allgemeinem Interesse für mögliche Verwendung in der Presse herausgehoben. Im Vorgriff auf die geplante Buchpublikation wird übrigens ein Doppelheft der Zeitschrift Fotogeschichte im Dezember 2013 einen längeren Beitrag von Ulrich Keller drucken (30.000 Wörter, 80 Abbildungen), der einige der hier kurz skizzierten Fragen breiter entwickeln wird.
Bildbeispiel 1: „Ich kenne keine Parteien mehr...“: Der Geist von 1914
Die Parole, mit der Kaiser Wilhelm II. zum Kriegsauftakt den politischen „Burgfrieden“ zwischen den Reichstagsfraktionen einläutete, ist berühmt geworden – da er in öffentlichen Reden zu haarsträubenden Schnitzern neigte, war sie ihm vom Pressechef des Außenamtes souffliert worden. Fast unbekannt dagegen ist das seinerzeit nicht weniger symbolkräftige und publikumswirksame Zeremoniell, das damit einherging. Und zwar hatte man im Schloss eine außerordentliche Reichstagssitzung angesetzt, die im wesentlichen als Rahmen für eine kaiserliche Thronrede diente. Anschließend forderte Wilhelm II. die Vorsitzenden der verschiedenen Parteien auf, einzeln vorzutreten und ihm per Handschlag die Einstellung aller Streitigkeiten zu geloben. Scherls „Woche“ widmete dem Ritual – auf den Thronstufen des Stadtschlosses, im Beisein von Kanzler und Ministern – eine volle Seite, auf der die einzelnen Parteienvertreter erkennbar porträtiert und namentlich benannt sind (Abb. 1). Ein SPD-Repräsentant ist allerdings nicht dabei, denn die Sozialdemokraten waren der Thronrede demonstrativ fern geblieben. Das verweist auf latent fortwirkende Konflikte, die bald auch wieder offen hervorbrechen sollten. Zumindest zur Eröffnung des Krieges war aber der Schulterschluss der Volksvertreter gesichert – inklusive der an sich pazifistisch und internationalistisch eingestellten Sozialdemokraten, die zwei Stunden nach der Thronrede auch die Kriegskredite absegneten.
In Frankreich das gleiche Bild: Auch hier hatten die Arbeiterparteien jahrzehntelang gegen Krieg und für klassenbedingte Verbrüderung über die Grenzen agitiert, aber nicht einmal die Ermordung des Sozialistenführers Jean Jaures konnte die nationale Einheitsfront verhindern. Im Pariser Abgeordnetenkammer forderte Staatspräsident Poincaré alle Franzosen mit flammenden Worten zur Bildung einer „heiligen Union“ aufrief; in ihrem Namen wurde die deutsche Herausforderung angenommen. In Großbritannien, wo keine Erbfeindschaft im Spiel war, gestaltete sich der Kriegsauftakt viel nüchterner. Außenminister Grey gelobte im Unterhaus, das Vereinigte Königreich werde den „Verpflichtungen der Ehre und des Interesses“ nachkommen (Abb. 2). Gemeint waren die von der aufstrebenden mitteleuropäischen Großmacht bedrohten globalen Wirtschaftsinteressen – weshalb die Londoner Schlagzeilen denn auch von der abnormalen Zinsentwicklung und der Schließung der Börse beherrscht wurden.
Als Wilhelm II. am 1. August 1914 die Mobilmachung befahl, waren die Würfel gefallen für den großen europäischen Bürgerkrieg. Ganz Deutschland begrüßte ihn angeblich mit patriotischer Begeisterung, die sich bald zum Mythos des klassenverbindenden „Augusterlebnisses“ verklärte. Nach neueren Erkenntnissen war der Enthusiasmus aber keineswegs einhellig; vielerorts wogen Ernst und Besorgnis vor. Die gegensätzlichen Reaktionen der Bildpresse auf die Mobilisierung bestätigen das. Die Leipziger „Illustrirte Zeitung“ setzte einen Kaiser aufs Titelblatt, der sich in schlichter Uniform fest und besonnen gab (Abb. 3), und im Inneren des Heftes folgten Motive wie singend durch die Straßen ziehende Rekruten, ein von Tausenden besuchter Kriegsgottesdienst vor dem Reichstag und eine jubelnde Menschenmenge vor dem Kronprinzenpalais (Abb. 4). „Der Weltspiegel“ (die halbwöchentliche Bildbeilage des im jüdischen Mosseverlag herausgegebenen „Berliner Tageblattes“) sah die Sache jedoch anders. Auch hier wurde Wilhelm II. die Titelseite eingeräumt (Abb. 5), doch arrogant-theatralisch in üppigem Ordensschmuck posierend, flößt dieser Kaiser dem Leser wenig Vertrauen ein. Die anschließende Fotoreportage beginnt mit zwei Bahnhofsszenen aus Österreich-Ungarn – ein Soldat kritzelt einen Abschiedsbrief, mehrere Frauen sehen weinend einem Zug nach – und endet mit Berliner Mobilmachungsbildern, die von Abschied, Kriegstrauung und besorgt wartenden Menschen. erzählen (Abb. 6). Von Überschwang keine Spur. Das ging nicht in den Mythos ein.
Bildbeispiel 2: Die Invasion Belgiens und Nordfrankreichs
Die deutsche Invasion Belgiens wurde unter dem Zwang des Schlieffenplans ohne Rücksicht auf die internationale Reaktion unternommen. Diese fiel vernichtend aus – schließlich war Belgien neutral, und Deutschland hatte sich vertraglich zur Wahrung seiner Neutralität verpflichtet. Noch schwerer fiel ins Gewicht, dass die deutschen Truppen in Belgien und Nordfrankreich massive Kriegsverbrechen begingen. Nervöse, übermüdete Regimenter sahen sich oft als Opfer krimineller Feuerüberfälle sogenannter „Franktireurs“, obwohl die Schüsse meist von regulären belgischen Einheiten, wenn nicht gar aus den eigenen Reihen kamen. Gleichwohl sahen sich viele deutsche Offiziere zu „Strafgerichten“ berechtigt, die über jedes Maß hinausgingen. In Löwen brannte man die halbe Stadt samt der Universitätsbibliothek mit ihren unschätzbaren historischen Beständen nieder; in Dinant kam es zur Exekution von 667 unschuldigen Einwohnern; selbst Frauen und kleine Kinder wurden zu Heckenschützen erklärt und niedergemacht. Deutsche Illustrierte beschworen die Franktireur-Gefahr mit allerlei phantasievollen Gemälden (Abb. 7), während die Exekutionen selbstverständlich tabu blieben.
Selbst in der alliierten Bildpresse spielten die deutschen Blutbäder nur eine marginale Rolle – anfangs glaubte man sie nicht, und später fehlte brauchbare Evidenz. Von der Schädigung des architektonischen Erbes aber gab es unanfechtbare Kameradokumente. Zur rauchenden Ruine reduziert, figurierte die gotische Tuchhalle von Ypern in der französischen Bildpresse als „nouveau crime des barbares“, während ein Foto der in Schutt und Asche liegenden Innenstadt Löwens in der „Illustrated London News“ mit der bemerkenswert fairen Anmerkung erschien, dass in dieser Wüstenei wenigstens das Rathaus dank deutscher Schutzmaßnahmen unversehrt geblieben war (Abb. 8). In einer mehrsprachigen Werbepublikation konterten die Deutschen mit der Skizze eines englischen Pressezeichners, die Maschinengewehrposten auf den Dächern des Rathauses und der Kathedrale von Löwen verzeichnete – gewiss ein Missbrauch der historischen Bauten, der vor der öffentlichen Meinung neutraler Staaten aber kaum das Ausmaß der Zerstörungen rechtfertigten konnte (Abb. 9).
Bildbeispiel 3: Die Schlacht von Verdun
In Deutschland sollte die Schlacht von Verdun sich in den 20er Jahren zum großen Mythos des material- und menschenverschleißenden Weltkriegs kristallisieren – während sie im Krieg selbst ein erstaunlich marginales Thema blieb. „Zusammenhängende“ Darstellungen längerer Schlachtphasen waren verboten, und die fragmentierte Berichterstattung durfte über die kryptisch-lakonischen Heeresberichte nicht substantiell hinausgehen, konnte also höchstens ergänzen, dass die offiziell erwähnte Festung X 50 Meter höher liege als das offiziell erwähnte Dorf Y. Die Bildzensur schottete das Kampfgebiet so radikal ab, dass nur Etappenfotos verödeter, vor Monaten eroberter Grabenstellungen publiziert werden konnten (Abb. 10). Die führenden deutschen Blätter brachten nur alle 6 bis 8 Wochen eine Handvoll belangloser, zusammengewürfelter Abbildungen, oft ohne Kommentar oder nur mit irrelevanten Aufsätzen über die Eichenwälder von Verdun oder seine mittelalterliche Geschichte gekoppelt. In Deutschland erschienen nur zwei Fotos von Kampfsituationen vor Verdun, davon eines sinnigerweise an Anfang eines neuen Unterhaltungsromans gestellt (Abb. 11). Als Privat-unternehmer in Zivil wurden die deutschen Kriegsfotografen vom Militär schikaniert; was ihnen trotzdem an interessanten Schnappschüssen gelang, wurde wegzensiert. Da tobte die bis dato größte Schlacht der Weltgeschichte, aber die geradezu unverantwortlich karge Bildbericht-erstattung ließ irgendwelche Scharmützel am Isonzo viel wichtiger erscheinen.
Fort Douaumont war gleich zu Anfang kampflos besetzt worden; die völlig zusammen-geschossene Schuttlandschaft der Festung ließ sich im Frankfurter „Illustrierten Blatt“ besichtigen, das in Deutschland die beste und umfassendste Bildreportagearbeit leistete. Text und Fotos stammten von dem Kriegsberichter E. Kalkschmidt und wurden zu einer abgerundeten „Photostory“ kombiniert, die auf die modernen Reportageformen und die „Autorenfotografie“ der 1920er Jahre vorauswies (Abb. 12). Die Leipziger „Illustrierte Zeitung“ war dagegen auf künstlerische Nachrichtenbilder spezialisiert und brachte eine Skizze des Kriegsmalers M.Frost, die angeblich die Eroberung von Fort Vaux im Juni 1916 zeigte, nachweislich aber nur einen vergeblichen Sturmangriff 3 Monate zuvor abbildete (Abb. 13). Derartig plumpe Lesertäuschung war in Deutschland üblich; als die Zensur z.B. nach dem Fall von Vaux keine Fotos der Festung passieren ließ (wohl um ihr Aussehen nicht den Franzosen zu verraten), wurde eine Aufnahme des 40 km entfernten Liouville kurzerhand zu „Vaux“ umgetauft.
Ganz anders die französische Presse, die mit packenden, detaillierten, glühend patriotischen Schilderungen die ganze Bevölkerung an der Verteidigung Verduns teilnehmen ließ. Populäre Billigblätter druckten spannende Nahaufnahmen von gestressten Soldaten in den vordersten Gräben (Abb. 14) neben moralisierenden, die Verwerflichkeit und Vergeblichkeit der deutschen Aggression betonenden Horrorfotos (Abb. 15). Dagegen wartete die seriöse „Illustration“ mit neuesten, nur wenige Tage zurückliegenden Schlachtepisoden auf, im Mai 1916 z.B. mit der Kapitulation deutscher Landser, zur Dramatisierung schräg gestellt und zur Authentifizierung mit Heeresberichtszitat versehen (Abb. 16). Solch schlagkräftigen, Vertrauen in die Armee stiftenden Bildjournalismus gab es in Deutschland nicht. In Frankreich wurde er von uniformierten, beim Generalstab geschätzten Armeefotografen ausgeübt. Daneben gab es armeeinterne Maler. Eines der berühmtesten Verdun-Gemälde wurde von G. Scott der „Voie Sacrée“ gewidmet, der einzig verbliebenen Nachschubstraße, auf der im Sechzehn-Sekundentakt die Lkws nach Verdun rollten (Abb. 17). So half die Bildpresse vom ersten Tag an, ein heroisch mythisierendes Bild von Verdun im kollektiven Gedächtnis der Franzosen zu verankern.
Bildbeispiel 4: Die britische Hungerblockade
Ein zentraler Aspekt des Kriegsgeschehens ist im kollektiven Gedächtnis der europäischen Länder heute nahezu verschüttet. Der Grabenkrieg an der Westfront war nämlich von systematischen Versuchen Englands und Deutschlands flankiert, sich gegenseitig durch Aushungerung der Bevölkerung per Seeblockade in die Knie zu zwingen, was zu massiven Verbrechen gegen die völkerrechtlich abgeschirmte Zivilbevölkerung führte. England eröffnete den Hunger-Poker mit einer Seeblockade, die nicht nur die deutschen Häfen, sondern die ganze Nordsee bis zum Polarkreis sperrte. Das war rechtswidrig, aber effektiv, denn damit kam der gesamte neutrale Handelsverkehr unter das Diktat britischer Importbeschränkungen, die allmählich alles zur „Kontrabande“ erklärten, was menschlich essbar war. Im importabhängigen Mitteleuropa führte das ab 1916 zu einer permanenten Hungersnot, der nach wissenschaftlichen, wenn auch zu hoch gegriffenen Schätzungen 1,2 Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Die britische Bildpresse beschrieb die Blockade als legitim und maßvoll. Ende 1916 gab gab der „Graphic“ z.B. Einblick in eine Gerichtsverhandlung über 3200 Ballen Kakao, die auf dem Weg nach dem schwedischen Gothenburg beschlagnahmt worden waren (Abb. 18), weil sie von dort offenbar nach Deutschland weiterverkauft werden sollten. In der betont förmlichen Gerichtsszene geht alles seinen ordentlichen Gang. Niemand konnte hier barbarische Gewaltanwendung wittern, und doch war es eine, soweit man zugesteht, dass Kakao sich nicht zur Schießpulverfabrikation eignet. Die deutsche Antwort bestand in der Leugnung des Problems. Aufklärende Artikel im Inland wurden verboten, und die Auslandspropaganda brüstete sich mit berstend vollen Lagerhallen (Abb. 19). Indessen gab die (auch international verfügbare) Inlandpresse mit Schnappschüssen von Schnittern bei der Ernte oder Hausfrauen und Kindern bei fröhlicher Speisung aus kommunalen „Gulaschkanonen“ nur dem nachdenklichen Leser verschämte Hinweise auf den Ernst der Nahrungskrise (Abb. 20). So wurde die Chance vergeben, im neutralen Ausland Widerstand gegen Englands brutale Hungerpolitik zu mobilisieren. Besonders Amerika verkannte deren grauenhafte Folgen; die Blockade kritisierte Wilson nur verbal, doch die deutsche U-Boot-Vergeltung beantwortete er mit Kriegseintritt.
Nach dem Waffenstillstand vom 11.11.1918 räumte Deutschland vertragsgemäß die besetzten Gebiete, lieferte Flotten und Eisenbahnen aus und überließ das Rheinland alliierten Besatzungstruppen; ebenfalls vertragsgemäß, wenn auch gegen alle Logik, Rechtlichkeit und Humanität, ging der Blockadekrieg weiter. Eine britische Illustrierte bildete den resultierenden Horror sogar ungeschminkt ab (Abb. 21): In einem Wiener Spital werden ausgemergelte, wegen des Rohstoffmangels in Zeitungspapier gewickelte Kinder ärztlich untersucht, obwohl sie eine Speisung viel nötiger hätten. Laut Unterschrift sind es „unschuldige Opfer der Verbrechen ihrer Herrscher, die den Krieg angefangen haben“ – das verkehrte den grafischen Hilferuf in eine Verurteilung der schon gestürzten österreichischen Machthaber und verschwieg die Rolle der britischen Importsperre. Da zu Kriegsende die Zensur aufgehoben wurde, stand nun auch der deutschen Presse frei, die laufende Hungerkatastrophe zu illustrieren. Der „Weltspiegel“ tat das mit einer 6 Monate verspäteten, vereinzelt stehenden Bildreportage von leeren Lagerhallen und tuberkulös oder rachitisch verkrüppelten Kindern (Abb. 22). Aber das Erpressungsmittel der Blockade wurde erst im Juli 1919 aufgegeben, nachdem Deutschland den punitiven Versailler Vertrag ratifiziert hatte. Hätte die deutsche Presse mehr von Propaganda verstanden, hätte England die skandalöse Aushungerungspolitik viel früher stoppen müssen.
Bildbeispiel 5: Der deutsche U-Bootkrieg
Die deutschen U-Boote sollten ursprünglich die alliierten Flotten bekämpfen, wurden angesichts der Blockade aber umdirigiert, um die Handelsschifffahrt zu den britischen Inseln zu unterbinden, also eine Gegenblockade durchzuführen. Es gab aber anfangs nur wenige Boote, und sie waren so klein und verwundbar, dass die Befolgung der internationalen Blockaderegeln für sie entweder unmöglich oder sehr gefährlich war. Die Mannschaften versenkter Schiffe konnten z.B. nur selten an Bord genommen werden. Die resultierenden Propagandaprobleme waren enorm. Jede Versenkung war ein spektakulärer Gewaltakt, und oft waren genug Fotos verfügbar, um sie als solche in der Bildpresse darzustellen. Hunderttausende verhungerten in Mitteleuropa, ohne dass ein Bild davon ins Ausland kam – dagegen figurierte jede neue Torpedierung, auch wenn sie legal war und keine Menschenleben kostete, als Akt der nackten Barbarei. Noch dazu deklarierte die deutsche Regierung den U-Bootkrieg als Repressalie gegen die britische Hungerblockade, was nicht nur seine Rechtswidrigkeit implizierte, sondern auch unglaubwürdig war, da man ja deren verheerenden Folgen geheim hielt. Das rächte sich u.a. darin, dass im neutralen Amerika das Verständnis für die deutsche Politik rapide schwand.
Die Torpedierung des großen Passagierdampfers „Lusitania“ am 5. Mai 1915 riss 1000 Menschen (darunter viele Amerikaner) in den Tod und wuchs sich zu einem deutschen Propagandafiasko aus, das dem der Belgieninvasion kaum nachstand und beinahe den Krieg-seintritt Amerikas verursachte (Abb. 23). Das Schiff war mit Kanonen ausgestattet, führte Munition mit sich und gehörte einer britischen Reederei – formaljuristisch ließ sich seine Versenkung daher verteidigen, aber der Hinweis auf ein paar hundert Munitionskisten war machtlos gegen die Welle schockierender Bilddarstellungen ertrunkener Frauen und Kinder in der Presse. Ähnlich empörende Torpedierungen von Passagier- und Hospitalschiffen sollten sich hartnäckig wiederholen und zu immer neuen Katastrophenbildern in der Feindpresse Anlass geben (Abb. 24). Das deutschen Ansehen litt dadurch immensen Schaden, ohne dass aus Berlin je eine überzeugende Erklärung oder Gegendarstellung kam.
Sobald Deutschland seine U-Bootflotte genügend aufgestockt hatte, mehrten sich die Forderungen, alle Rücksichten auf den neutralen Handel aufzugeben und zum „unbeschränkten“ Tauchbootkrieg überzugehen (warnungslose Vernichtung aller Schiffe in erklärten Sperrzonen), der angeblich einen schnellen Sieg verbürgte. Als er am 1. Februar 1917 begann, brachten enorme Versenkungsquoten die Versorgung der britischen Inseln tatsächlich in Gefahr, aber die Einführung des Konvoi-Systems rettete die Situation – und Amerika trat in den Krieg ein, womit das Schicksal Deutschlands besiegelt war. Die übertriebenen Hoffnungen, die sich an den radikalen U-Booteinsatz knüpften, lassen sich an den zahlreichen Titelbildern, Bildreportagen und U-Boot-Sondernummern ablesen, die ab Anfang 1917 in Deutschland kursierten. Während die „Berliner Illustrierte“ die U-Bootkampagne als faszinierendes Technik-Phänomen für das gebildete Großstadtpublikum aufbereitete (Abb. 25) und als eine Art deutsche Wertarbeit ausgab, die ohne Schaden für die stets geretteten Mannschaften ausgeübt wurde, brachte die Leipziger „Illustrierte Zeitung“ zwar viele tauchbootgezierte Seestücke bekannter Marinemaler in luxuriösen Farbabbildungen, nutzte den U-Bootkrieg aber vor allem zur farbig ebenfalls geschönten Werbung für die Produkte der Schwerindustrie (Abb. 26) und stellte damit klar, dass es in diesem Krieg auch in Deutschland nicht um Recht und Ehre, sondern um Profite ging.
Bildbeispiel 6: Kriegspropaganda
Graf Bernstorff, der deutsche Botschafter in Washington, raufte sich die Haare, wenn zur Behebung des von der Belgieninvasion oder Lusitania-Versenkung angerichteten Flurschadens aus Deutschland nur professorale Argumente kamen. Dagegen war die populäre Billigpresse der alliierten Länder (zu der es im bildungsbürgerlich dominierten Reich kein Gegenstück gab) längst gewohnt, Propagandabotschaften durch Personalisierung und Dramatisierung breiten Bevölkerungsschichten nahezubringenen. Z.B. Elsass-Lothringen: Wenn dieses zentrale Kriegsthema in der deutschen Presse überhaupt vorkam, dann als Standort bestimmter Industrien – während die französischen Illustrierten den Anspruch auf die 1870 verlorenen Provinzen in die Form eines kühn über die Reichsgrenze stürmenden Offiziers kleidete, dem sich eine junge Elsässerin in malerischer Landestracht beseligt an den Hals wirft (Abb. 27): gewiss die wirksamere Werbestrategie. Oder das Thema Kriegsmüdigkeit. In Deutschland war es Gegenstand endloser akademischer Diskussionen, während es in England in einen schlagenden Bildvergleich umgesetzt wurde: ein demoralisierter deutscher Gefangener links, ein strahlend unternehmungslustiger „Tommy“ rechts (Abb. 28) – da erübrigten sich abstrakte Erörterungen.
Allerdings gab es ein ganzes Spektrum trivialer Bildbotschaften, die bis auf die Uniformdetails zwischen den feindlichen Ländern austauschbar waren. Beiderseits füllten sich die Titelseiten mit wohlgesitteten Soldaten, die nichts mit Dreck, Kampf und Tod zu tun hatten, sondern an Feldgottesdiensten betend auf die Knie sanken oder Hauskonzerte veranstalteten. Erstaunlich symmetrisch wurde auch die medizinische Versorgung oder reichliche Verköstigung der jeweiligen gegnerischen Gefangenen inszeniert (Abb. 29, 30). Selbst rassistischer Bildeinsatz Illustrierten gehetzt wurde, antworteten in der alliierten Bildpresse deutsche Gefangene, denen der Kampfschrecken noch ins Gesicht geschrieben stand und die nach äußeren Merkmalen der postulierten deutschen Verrohung ausgewählt wurden (Abb. 31, 32).
König der Hetzer war aber der britische Zeitungsmagnat Northcliffe, der die englische Wahlkampagne vom Dezember 1918 zur Propagierung revanchistischer Maximalforderungen nutzte – im Namen des Nemesis-Idols, dessen blutiges Schwert keinen Zweifel ließ, welches Schicksal dem besiegten Gegner zugedacht war (Abb. 33). Lloyd George wollte mit gemäßigten Forderungen in die Versailler Friedensverhandlungen gehen, musste aber große Konzessionen an die Northcliffe-Presse machen; auch deshalb kam es zu einem unfairen Friedensschluss, der 20 Jahren Unfrieden in Europa eröffnete (Abb. 34).