L.I.S.A.: Sie zeigen, dass die Tatsache, dass beide Konflikte Mitte der 1980er Jahre situiert sind und einen Sektor der „alten“ Schwerindustrie in führenden Nationen des Westens betreffen, kein Zufall ist. Vielmehr haben wir es mit den Schließungen von Zechen, Bergwerken sowie Eisen- und Stahlhütten und den Folgen einer massiven Umstrukturierung in den Industrienationen seit den frühen 1970er Jahren zu tun – der Wandel von den Industriegesellschaften zu Dienstleistungsgesellschaften und Finanzmarktplätzen. Man könnte hier also einen klassischen Konflikt zwischen Arbeit auf der einen Seite und Kapital auf der anderen Seite vermuten, in dem die Arbeiterseite ein aussichtloses Rückzugsgefecht führt. Sie widersprechen dieser gängigen Deutung und sehen in dem Aufruhr in der Montanregion eher eine Auseinandersetzung um Konfliktmodalitäten. Könnten Sie das bitte kurz erklären? Steht das nicht im Widerspruch beispielsweise zur Politik der damaligen Premierministerin Margret Thatcher, die der Gesellschaft – free society, deregulation, privatization etc. - und insbesondere der Bergbauindustrie den Krieg erklärt hatte und den Konflikt ideologisch auflud?
Dr. Hordt: Den Widerspruch sehe ich so nicht. Aus Sicht der Arbeiter (und ihrer Angehörigen) handelte es sich ja gerade nicht um ein aussichtsloses Gefecht. Es standen zumindest immer Abfindungen für die aktiv Beschäftigten auf dem Spiel, oft aber auch zentrale Elemente der Wertschöpfung in einer Region. Kohle und Stahl sind ja integrierte Industrien, bei denen das Vorhandensein bestimmter Vorprodukte oder bestimmter Betriebe zur Herstellung von Zwischenprodukten entscheidend sein kann für die Rentabilität des gesamten Industriezweigs. Ein Beispiel: Wenn man die Walzstraße aus dem Stahlwerk entfernt, kann man keine Bleche mehr zur Veredelung ins Nachbarwerk liefern. Dann lohnt sich oft auch der Bau von Industrieanlagen, Brücken oder sonstigen Endprodukten aus Stahl nicht mehr. Die Rheinhausener hatten einige Jahre zuvor erfolgreich für den Erhalt ihres Walzwerks gekämpft, warum sollte das nicht für die ganze Hütte möglich sein? So etwas wie Unausweichlichkeit, „there is no alternative“, entsteht immer erst aus dem Rückblick oder weil zeitgenössische Interessen Alternativlosigkeit propagieren.
Dennoch hat es diesen Trend gegeben, Kohle und Stahl waren nicht mehr rentabel. Das war aber in den 1980er Jahren nichts Neues. Die meisten Zechen in Großbritannien wurden in den 1960er Jahren geschlossen. Die Zahl der Arbeitnehmer in der deutschen Stahlindustrie erreichte Mitte der 1960er Jahre ihren absoluten Höhepunkt. Die Tatsachen von Schließungen und Arbeitsplatzabbau allein erklären also nicht, warum es zur Eskalation kommt. Dafür ist der veränderte wirtschaftliche und gesellschaftliche Kontext der 1980er Jahre entscheidend. Die ideologische Zuspitzung durch die sogenannten Neoliberalen um Thatcher hat viel dazu beigetragen. Aber auch bei Thatcher würde ich nie so weit gehen, ihr einen „Krieg gegen die Gesellschaft“ zu unterstellen, sie sagte einmal „there is no such thing as society“, weil Thatcher – mit einem großen Teil des liberalen und konservativen Denkens in der angelsächsischen Welt – ein extrem zugespitztes, individualistisches Modell von Gesellschaft vertrat.
Entscheidend war das Aufeinandertreffen dieses neuen (oder vielmehr: wiederauferstandenen) Zeitgeistes mit dem älteren, kollektivistischen Modell der Konfliktaustragung und –beilegung in den Montanrevieren. Wenn Arbeitsverhältnisse nicht mehr als Ergebnis kollektiver Vereinbarungen, sondern ausschließlich als individuelle Verträge gesehen werden, wird Streikbrechen zum Bürgerrecht, „right to work“ sagten die Konservativen damals. Damit verschwindet aber eine entscheidende Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in der Arbeitswelt. Das geschah im Miner’s Strike und so wurde tatsächlich das Gleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit ausgehebelt. Entscheidend für die Eskalation vor Ort war aber, dass die Unternehmensführung im britischen Kohlebergbau damit auch alle lokal und regional wirksamen Mechanismen der Deeskalation sabotiert hatte, z. B. Vereinbarungen zwischen pit managers und Betriebsgruppen der Gewerkschaft vor Ort. Übrigens gegen großen Widerstand im Unternehmen, wo die erfahrenen Kräfte im sogenannten industrial relations department immer darauf zählten, die radikale Gewerkschaftsführung eher durch solche lokalen Kompromisse bei gleichzeitigem Respekt gegenüber der gewerkschaftlichen Autonomie zu schwächen.
Es geht mir also darum, im Sinne der „Nach-dem-Boom-These“ von Doering-Manteuffel und Raphael die Wechselwirkungen zwischen lokalen Konflikten und einer übergeordneten Ebene politischer Diskurse und ökonomischer Konjunkturen aufzuzeigen, weniger um eine eindeutige Zuordnung nach dem Motto: Erst gewinnt die Arbeiterschaft, dann schlägt das Kapital zurück.