Nach gut zwanzig Jahren sind die Taliban in Afghanistan an die Macht zurückgekehrt - nahezu kampflos. Der Westen hat fluchtartig das Feld geräumt. Bilder von abhebenden Hubschraubern aus Kabul erinnern an die Hals-über-Kopf-Flucht der US-Amerikaner 1974 aus Saigon. Die nachfolgenden Reaktionen auf die Machtübernahme der Taliban sind überwiegend von Überraschung und Entsetzen geprägt. Wie konnte es dazu kommen, so die sich aufdrängende Frage. Was ist nun für die nächste Zeit zu erwarten? Was wird aus den Menschen in Afghanistan? Wozu werden die Taliban ihre Macht einsetzen? Und welche Lehren wird der Westen aus dem Debakel in Afghanistan ziehen? Wir haben diese Fragen dem Islamwissenschaftler Dr. Tilman Lüdke vom Arnold-Bergstraesser-Institut (ABI) an der Universität Freiburg gestellt. Er forscht seit Jahren über den Nahen und Mittleren Osten sowie zum politischen Islam.
"Der weitgehende Verzicht auf Gewalt war nicht unbedingt zu erwarten"
L.I.S.A.: Herr Dr. Lüdke, Sie sind Islamwissenschaftler und forschen am Arnold-Bergstraesser-Institut (ABI) an der Universität Freiburg zum Nahen und Mittleren Osten sowie zum politischen Islam. Aktuell analysieren Sie die gegenwärtige Situation in Afghanistan, wo die Truppen der Taliban nun die Macht übernommen haben. Bevor wir auf einige Details zu sprechen kommen - hat Sie die jüngste Entwicklung überrascht? Kommt die Machtübernahme der Taliban überraschend oder war damit zu rechnen?
Dr. Lüdke: Die Machtübernahme der Taliban hat mich nicht besonders überrascht. Sogar US-Präsident Joe Biden sprach bei seiner Abzugsentscheidung davon, dass die vom Westen gestützte afghanische Regierung „sich noch einige Monate würde halten können“ – in anderen Worten, dass die Taliban wohl früher oder später wieder an die Macht kommen würden. Überraschend waren jedoch zwei andere Dinge: erstens das Tempo, in dem die Taliban Kabul einnehmen konnten, und zweitens die beträchtlichen politischen Fähigkeiten, die sie entwickelt haben: ein Gutteil der afghanischen Regierungsstreitkräfte scheint aufgrund von Bestechung entschieden haben, nicht zu kämpfen. Auch der weitgehende Verzicht auf Gewalt (zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt) war nicht unbedingt zu erwarten.