L.I.S.A.: Sie gehen in Ihrer Analyse davon aus, dass neuer Terror und die islamische Herrschaftsform in Afghanistan dazu führen werden, dass viele Menschen aus dem Land fliehen. Schon jetzt bestimmen dramatische Fluchtbilder die Berichterstattung. Gehen Sie davon aus, dass es zu einem regelrechten Exodus aus Afghanistan kommen wird? Der frühere Verteidigungsminister Peter Struck hat 2002 erklärt, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland werde auch am Hindukusch verteidigt. Bricht diese Linie nun auch mit Blick auf Migrationsbewegungen ein?
Dr. Lüdke: An dieser Stelle muss ich vielleicht ein Missverständnis aufklären. Ich sprach davon, dass der Erfolg der Taliban islamistischem Terror außerhalb des Landes einen moralischen Schub geben könnte, und nicht davon, dass Terror im Inneren gegen die Bevölkerung zu erwarten sei. Sicherlich fürchten viele Menschen in Afghanistan die Rache der Taliban an denen, die den westlichen Mächten geholfen haben, oder möchten unter einem radikal-islamischen Regime nicht leben. So wie die Taliban sich jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt gebärden, scheint die Furcht vor ihrer Gewalt wesentlich größer zu sein als ihre Bereitschaft zur Gewaltanwendung. Hier erwarte ich keinen Exodus. Was jedoch zu Massenflucht führen könnte, ist die desolate Wirtschaftslage, die dem Land bevorsteht, wenn die westlichen Geldgeber ihre Drohung wahrmachen, Afghanistan unter den Taliban nicht mehr zu unterstützen. Es könnten dann wirklich Hunderttausende oder Millionen flüchten, jedoch nicht vor den Taliban, sondern weil sie im Land keine Existenzmöglichkeit mehr besitzen.
Herrn Strucks Behauptung von 2002 war schon damals eine Farce – es war klar, dass die Bundesrepublik Deutschland, wie unlängst auch von Herrn Seehofer eingeräumt, Bündnistreue zum US-amerikanischen Verbündeten demonstrieren wollte, und nicht etwa auf eine reale Sicherheitsgefährdung aus Afghanistan reagierte. Leider hat sich Deutschland in eine, wie sich zeigen sollte, aussichtslose jahrzehntelange Militäraktion hineinziehen lassen, ohne dass es dafür eine reale Grundlage gegeben hätte.