Der Begriff Xenophobie ist deutlich jünger als die entsprechende menschliche Verhaltensweise an sich. Laut Wikipedia und einer Worthäufigkeitsanalyse beim Google Ngram Viewer taucht der Begriff zum ersten Mal Anfang des 20. Jahrhunderts in Frankreich auf, später dann auch in Deutschland und England - wenn auch nur vereinzelt. Einen exponentiellen Schub erhält die Verwendung des Wortes in Büchern und Journalen in den 1990er Jahren. Heute nimmt Xenophobie als Reaktion auf die großen Fluchtbewegungen von Afrika und Vorderasien nach Europa wieder ein besorgniserregendes Ausmaß an. So jung der Begriff, so alt das Konzept der Angst vor dem Fremden. In seinem neuesten Buch geht der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Prof. Dr. Erhard Oeser dem Phänomen Fremdenfeindlichkeit seit den Anfängen der Menschheit auf den Grund. Wir haben ihn dazu befragt.
"Auch um eine kritische Betrachtung der eigenen Kultur bemühen"
L.I.S.A.: Herr Professor Oeser, Sie haben ein neues Buch vorgelegt, das sich mit der Angst vor dem Fremden - so auch der Titel - beschäftigt. Ihr Thema ist die Geschichte der Xenophobie. Allein ein Blick in das Inhaltsverzeichnis erweckt den Eindruck, als sei Xenophobie eine anthropologische Konstante, als gehöre Angst vor dem Fremden zum Grundgerüst des Menschseins, als ziehe sich deshalb Xenophobie wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Ist das so richtig verstanden?
Prof. Oeser: Als „anthropologische Konstante“ möchte ich die Xenophobie oder „Angst vor dem Fremden“ nicht bezeichnen. Denn das könnte man im Sinn eines genetischen Determinismus missverstehen. Das würde bedeuten, dass es sich dabei um eine unveränderbare angeborene Eigenschaft des Menschen handelt.
Das aber wird heutzutage in der in der naturwissenschaftlich orientierten Anthropologie nicht vertreten. Denn das genetische Programm des Menschen ist ein offenes Programm, das für den Einfluss der sozialen Umwelt zugänglich ist. Der Begriff „Xenophobie“ ist daher eher harmlos auf die Angst (phobos) vor einem Fremden (xenos) bezogen, die sich, ohne eine direkte Bedrohung erfahren zu haben, ab einen gewissen Kindesalter fast ausnahmslos bei allen Völkern zeigt, die aber im Lauf der fortschreitenden Entwicklung wieder verschwindet. In der Humanethologie gibt es aber genügend Hinweise, dass die Wurzeln grundlegender Verhaltensweisen des Menschen weit in den vormenschlichen Bereich zurückreichen. Das gilt in einem gewissen Maße auch für die Xenophobie, die für das Überleben des Individuums und der Art eine wichtige Funktion besitzt. Fremdenangst lässt sich daher ursprünglich als ein Schutzmechanismus verstehen. Man weiß ja nicht, welche Absichten der Fremde verfolgt. Ist er feindlich? Ist er freundlich? Da ist es vernünftig, erst einmal vorsichtig zu sein. Die Wurzeln dieses Schutzmechanismus liegen in der Vorgeschichte des Menschen als biologischer Art. Angst und Misstrauen gehören sicher zu den ältesten Gefühlsregungen der Menschheit. Es handelt sich dabei zwar um eine genetische Disposition, doch sie bedeutet keinen genetischen Determinismus. Hinzu kommt noch, dass ja die moderne Genetik das Angeborensein auf die statistisch messbare Wahrscheinlichkeit bezieht, ob sich ein Merkmal in bestimmter Umgebung und unter bestimmten Bedingungen, nicht aber in allen Umgebungen und unter jeder Bedingung entwickeln wird. In diesem Sinn ist Xenophobie ein fundamentales Phänomen, aus dem der Rassismus nicht notwendigerweise als Folgeerscheinung entstehen muss. Eine biologistische Begründung des Rassismus ist nur ein Irrtum des Sozialdarwinismus, der mit Darwin selbst, der die Einheit des Menschengeschlechtes (Homo sapiens) vertreten hat, nichts zu tun hat. Für Darwin sind Rassen nur Untereinheiten von Arten oder Varietäten, die sich untereinander fruchtbar vermehren können. Eine klare Bestimmung des Artbegriffs hat ja bereits Goethe geliefert: „Was sich paart und schart, das nenn ich eine Art“. Dagegen wird Hitlers durch den Nationalismus politisch motivierter demagogischer Unsinn betreffend die biologische Vererbung am deutlichsten an seinen Beispielen aus der Tierwelt erkennbar. Dort verwechselt er nämlich in seiner Argumentation in Bezug auf den Begriff der Menschenrassen den biologischen Rassenbegriff, der nur eine Subspezies darstellt, mit dem Art- oder Gattungsbegriff, wenn er sagt: „Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen seiner Art. Meise geht zu Meise. Fink zu Fink, der Storch zur Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, Hausmaus zu Hausmaus, der Wolf zur Wölfin u.s.w.“ (Hitler 1934, S. 311). Es ist erschreckend und heutzutage kaum vorstellbar, dass eine derartige pseudowissenschaftliche Ansicht die Grundlage des Antisemitismus war, der sich damals im nationalsozialistischen Deutschland mit all seinen fürchterlichen Folgen entwickelt hat.
Was dagegen heutzutage massiv vertreten wird und die öffentliche Diskussion bestimmt, ist ein "Neorassismus" oder "Kulturrassismus". Dieser Neorassismus ist eine Denkweise, die kulturelle Differenzen anstelle von genetischer Ausstattung für "angeboren, unauslöschlich und unveränderbar" erklärt. Das Stichwort dazu ist "Clash of Civilizations" oder "Kampf der Kulturen". Die Botschaft lautet: Andere Kulturen seien auf einem niedrigen Stand und zur Anerkennung von Menschenrechten und Demokratie als Staatsform nicht fähig. Was dabei übersehen wird, ist die in der modernen Völkerkunde (Ethnologie) zustande gekommene Einsicht von der Subjektivität jedes kulturellen Standpunktes. Daher muss man sich nicht nur um das Verstehen fremder Kulturen sondern auch um eine kritische Betrachtung der eigenen Kultur bemühen. Denn Xenophobie ist eine Kulturerscheinung oder wie es die Aufklärungsphilosophen Rousseau und Voltaire gesehen haben, die dunkle Seite der fortschreitenden Zivilisation. In diesem Sinne, nämlich einer Aufklärungsschrift, möchte ich auch meine kulturhistorisch vergleichende Darstellung verstanden wissen.