Derzeit wird davon ausgegangen, dass über 2.000 Sprachen auf der Welt ausgestorben sind. Schaut man sich die Liste dieser Sprachen an, wird einem die verlorene Vielfalt besonders eindrücklich - unvermittelt wird bewusst, wie viele Sprachen man nicht kannte, die nun schon verloren sind, und wie viele ausstarben, bevor ihre Namen verschriftlicht wurden. Gleichzeitig entstehen unentwegt neue Sprachen, meist durch die Kreativität jüngerer Generationen bedingt, oder es werden bereits ausgestorbene Sprachen wiederbelebt – dabei spielt die Anzahl der Muttersprachlerinnen und Muttersprachler eine bedeutende Rolle.
Die Sprachwissenschaftlerin Dr. Rita Mielke befasst sich mit den historischen und soziologischen Komponenten sowohl von verlorenen oder vom Aussterben bedrohten Sprachen als auch von solchen, die neu entstehen. In ihrem „Atlas der verlorenen Sprachen“ bespricht sie 50 Sprachen auf fünf Kontinenten und geht dabei auf verschiedenste Themen ein: die größtenteils gewaltvollen Hintergründe ihres Verschwindens, die Rolle von Religion sowohl für das Auslöschen als auch das Wiederbeleben von Sprachen, absurde Versuche einer Hierarchisierung von Sprachen. Über diese Themen sowie die Unbeständigkeit von Sprache sprachen wir mit Dr. Rita Mielke im L.I.S.A.Interview.
"Kolonialismus und Missionierung sind für das Sprachensterben auf der Welt verantwortlich"
L.I.S.A.: Frau Dr. Mielke, im Vorfeld unseres Gesprächs sagten Sie, dass die Arbeit zu Ihrem gerade erschienenen Buch „Atlas der verlorenen Sprachen“ auf der einen Seite eine große Bereicherung war, Sie auf der anderen Seite jedoch nachdenklich gestimmt hat. Warum? Und für wen haben Sie das Buch geschrieben?
Dr. Mielke: Der „Atlas der verlorenen Sprachen“ will kein wissenschaftliches Fachbuch sein, sondern ein ebenso spannendes wie wichtiges Thema anschaulich und „gut verpackt“ einem interessierten Lesepublikum nahebringen. Ethnolinguistik und Soziolinguistik leisten tolle Arbeit, von der außerhalb des Wissenschaftsbetriebs leider nur wenig bekannt ist. Zu Ihrer Frage nach Bereicherung und Belastung... nun – eine große Bereicherung war das Eintauchen in so viele so unterschiedliche Sprachwelten und Kulturräume, gleichsam eine große Weltreise, bei der sich mir viele (kultur-)historische Zusammenhänge und Hintergründe noch einmal ganz neu erschlossen haben. Nachdenklich gestimmt hat mich die Erkenntnis, in welch dramatischem Ausmaß Kolonialismus und Missionierung für das Sprachensterben überall auf der Welt verantwortlich sind und mit welch brutalen Methoden gerade kleinen indigenen Gruppen ihre Sprachen ausgetrieben wurden.