Österreich steht seit 1918 unter Beobachtung der Weltgemeinschaft, manchmal war es in den vergangenen hundert Jahren sogar zur Bewährung verurteilt. Das ist die zentrale These des Historikers Prof. Dr. Manfried Rauchensteiner in seinem neuen Buch über die Geschichte Österreichs seit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Der österreichische Schriftsteller Karl Kraus hatte in diesem Zusammenhang von der "Versuchsstation des Weltuntergangs" geschrieben. Tatsächlich durchlief Österreich von 1918 bis zur Gegenwart zahlreiche Stadien der eigenen Verfasstheit, die Manfried Rauchensteiner nicht nur Revue passieren lässt, sondern danach abklopft, welche zu den besseren und welche zu den weniger erfolgreichen gehörten und gehören. Wir haben ihm zu dieser wechselvollen Geschichte unsere Fragen gestellt.
"Das Auf und Ab staatlicher Existenzen"
L.I.S.A.: Herr Professor Rauchensteiner, Sie haben einen neuen voluminösen Band vorgelegt. Vier Jahre nach der überarbeiteten Neuauflage „Erster Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918“ haben Sie nun das Buch „Unter Beobachtung. Österreich seit 1918“ veröffentlicht, das die Geschichte Österreichs in den vergangenen 100 Jahren umfasst. Wie kam es zu diesem umfangreichen Werk? Wie hängt es abgesehen vom chronologischen Anschluss mit dem vorherigen zusammen?
Prof. Rauchensteiner: Ich weiß eigentlich nicht, wann genau ich an dem Buch über Österreich seit 1918 zu arbeiten begonnen habe. Die Wurzeln reichen wohl bis 1970 zurück, als ich mich das erste Mal mit dem Kriegsende in Österreich 1945 beschäftigt habe. Im Lauf der Jahre kam Stück für Stück dazu, die Aktenberge und Literaturauszüge wuchsen und wuchsen, immer auch unterbrochen von Publikationen, in denen ich Einzelfragen behandelt habe. Dazu kam, dass ich selbst ein politiknahes Leben geführt habe und mit vielen der handelnden Personen zu tun hatte, gelegentlich mehr als mir lieb war. 2014 habe ich mich dann über Einladung des Böhlau Verlags entschlossen, das gesammelte Wissen durchzuarbeiten. Das lag auch deshalb nahe, da mein Buch über Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg mit 1918 endete. Aber bekanntlich gibt es kein Ende der Geschichte, und es war reizvoll, die Zeit bis zur Gegenwart zu behandeln. Gerade der Blick über einen vergleichsweise langen Zeitraum macht das Auf und Ab staatlicher Existenzen deutlich, und dabei kommt die Zeit als vierte Dimension voll zur Geltung. Und bekanntlich sind ja achtzig und mehr Jahre im Leben eines Menschen nicht mehr so sehr viel. Im „Leben“ eines Staates sind das mitunter extrem lange Zeiträume. Der österreichische Fall beweist das.