L.I.S.A.: Mit was für Soldaten hatten Sie es zu tun?
Groß: Ich habe meinen Schwerpunkt auf die Gespräche der Angehörigen des Heeres gelegt. Es schien mir zum einen naheliegend, das Heer als größte Teilstreitkraft ins Zentrum der Untersuchung zu stellen. Zum anderen waren diese Gespräche auch die inhaltlich vielfältigsten. Daneben war es zudem möglich, zumindest schwerpunktmäßig auch die Gespräche der anderen Teilstreitkräfte – Luftwaffe und Marine – und der Generalität zu untersuchen.
Auch wenn eine Beschränkung des Materialumfangs dringend geboten war, konnte ich dieses Material einfach nicht vollständig außen vor lassen. Betrachtet man die soziobiographischen Daten, die uns vorliegen, so handelt es sich um einen Querschnitt durch die Gesellschaft. Es sind alle Schichten, Berufsgruppen, Regionen oder Altersklassen vertreten.
L.I.S.A.: Wie ist das Quellenmaterial „Abhörprotokolle“ gegenüber anderen „Soldatenquellen“ wie Feldpostbriefe oder Verhöre zu verorten?
Groß: Bereits auf den ersten Blick fasziniert die oben erwähnte „Unmittelbarkeit“. Wenn man noch näher an das Geschehen heran will, dann müsste man schon in den Schützengraben. Auf die meisten Quellengattungen der Mentalitätsgeschichte treffen dagegen sowohl das Quellenproblem des großen zeitlichen Abstands zum Geschehen als auch das der Besonderheit der Erhebungs- beziehungsweise Entstehungssituation zu. Im Extremfall konnte z.B. bei Vernehmungen im oder auch nach dem Krieg das Leben oder persönliche Wohlergehen der Soldaten von ihren Aussagen abhängen.
Zudem ist zu bedenken, dass viele Quellengattungen für die Forschung nur aufgrund des Mangels an aussagekräftigem Quellenmaterial über zeitgenössische Wahrnehmungen von Krieg und Politik in der Wehrmacht herangezogen worden sind. Es handelt sich somit diesbezüglich bei genauerem Hinsehen um „Ersatzquellen“, die zudem oft nur eine Seite des Kommunikationsprozesses wiedergeben. In den abgehörten Gesprächen dagegen reproduzieren und verändern die Soldaten auf interaktive und intersubjektive Weise ihre Weltsicht. Die Quellen gewähren Einblick in diesen Vorgang.
L.I.S.A.: Welche Rolle spielt das mögliche Motiv von Soldaten, gegenüber Gleichgesinnten mit Taten zu prahlen? Kurzum: Sind die Quellen glaubhaft?
Ich persönlich halte die Quellen für sehr glaubhaft. Der Fall der Prahlerei tritt selbstverständlich auf. Ein großes ABER an dieser Stelle: Erstens sind solche Erzählungen nicht die Regel. Mehrheitlich zeugen die Quellen durch einen sachlichen Umgang mit der Materie vom Krieg als Handwerk, von einer „Versoldatung“ – wie ich es genannt habe – der abgehörten Personen. Zweitens entwickelt man ein Gespür dafür, solche Erzählungen anhand gewisser Indizien zu entlarven. Und drittens ist dieses Prahlen ja auch schon ein Befund für sich, zeugt es schließlich von einer breiten Akzeptanz militärischer, soldatischer Werte.
L.I.S.A.: Wie geht man persönlich mit solchen „Dokumenten des Grauens“ um? Verzweifelt man da manchmal an der Welt? Gibt es da auch schon einmal das Bedürfnis nach Abstand zum Material?
Zunächst war ich in meiner Familie das Thema Zweiter Weltkrieg eigentlich stets präsent, hauptsächlich durch Besuche des Grabes meines Großvaters in der Normandie, umliegender Museen sowie Soldatenfriedhöfen diverser Nationen. Des Weiteren kommt man natürlich als Historiker immer wieder mit den Themen Krieg und Tod in Berührung und die Literatur war mir durchaus bekannt. Ich war also auf einiges gefasst. Durch eine gründliche methodische Vorbereitung des Projekts war mir zudem bewusst, dass es nicht gewinnbringend ist, die Soldaten und ihr Handeln nach heutigen moralischen Maßstäben zu bewerten. Harald Welzer zeigt dies ja bereits in seiner Studie „Täter“.
Ich hatte in einem anderen Forschungsprojekt davor viel mit Zeitzeugeninterviews gearbeitet. Ich hoffe, man sieht es mir nach, aber im Vergleich dazu war manchmal gerade die – gemessen an unseren heutigen Moralvorstellungen – weniger angepasste Botschaft dieser Quellen interessant. Allerdings nach einem langen Tag Quellenarbeit, wenn man förmlich die Soldaten glaubt, sprechen zu hören, tut es doch auch gut, wieder „aus der Kriegsgefangenschaft“ befreit zu werden.
L.I.S.A.: Ist das gefundene Quellenmaterial nun erschöpfend erforscht oder bieten sich noch ganz andere Fragestellungen an?
Groß: Das Quellenmaterial ist ganz und gar nicht erschöpfend erforscht! Trotz der tollen Studien, die jetzt bereits entstanden sind, ist das Material derart umfassend, dass es noch viele lohnenswerte Fragestellungen gibt. Es sind erste Schlaglichter gesetzt. Ich habe es etwa als meine Aufgabe gesehen, eine Art Bestandsaufnahme der Gesprächsprotokolle vorzulegen. Im Grunde lohnt sich überall aber ein noch tieferer Blick. Zudem stehen momentan zwar selbstverständlich die neuen Erkenntnisse im Vordergrund. Das Material beinhaltet aber auch das Potenzial, verschiedene Annahmen und Tendenzen der Forschung, die bereits länger bestehen, empirisch zu unterfüttern.
Sebastian Groß hat die Fragen der L.I.S.A.Redaktion schriftlich beantwortet.