Einem geflügelten Wort zufolge sind es die Sieger, die „Geschichte schreiben“ und deren Perspektive auf vergangene Ereignisse sich langfristig durchsetzt. Der Historiker Reinhart Koselleck hat demgegenüber den produktiven „Erfahrungsgewinn“ hervorgehoben, den die unterlegene Seite aus einer Niederlage ziehen kann. Während sich die Sieger in ihren Strategien und Herangehensweisen vielfach bestätigt fühlten, stehe die Verliererseite vor der Herausforderung, sich mit den Gründen für ihr Scheitern intensiver auseinanderzusetzen. Doch welche Schlussfolgerungen wurden aus militärischen Misserfolgen gezogen? Unter dem Titel "Geschichte wird von den Besiegten geschrieben" ist nun ein Tagungsband erschienen, der sich mit Darstellungen und Deutungen von Niederlagen in der Antike und im Mittelalter befasst. Wir haben die beiden Herausgeber des Bandes, Dr. Manuel Kamenzin (Ruhr-Universität Bochum) und Dr. Simon Lentzsch (Université de Fribourg), gefragt, was der Umgang mit militärischen Niederlagen über vergangene Epochen verrät.
"Das Diktum Reinhart Kosellecks ist ein wunderbarer Input für die Lehre"
L.I.S.A.: Herr Dr. Kamenzin, Herr Dr. Lentzsch, was hat Sie veranlasst, sich dem Umgang mit Niederlagen in Antike und Mittelalter genauer zu widmen? Welche Vorüberlegungen gingen der Konzeption Ihres Bandes voraus?
Dr. Kamenzin/Dr. Lentzsch: Wir beide haben uns – damals noch unabhängig voneinander – bereits in unseren Dissertationen jeweils mit der Frage nach dem Umgang mit potentiell schwieriger Vergangenheit, militärischen Niederlagen in der römischen Republik beziehungsweise den Toden von Herrschern im Mittelalter, auseinandergesetzt. Gerade solche Ereignisse generierten oftmals einen höheren Erklärungsbedarf als etwa Siege und regen so zur Konstruktion von Erklärungen und Deutungen an. Diese zu untersuchen, stellt ein spannendes und instruktives Arbeitsfeld dar – nicht zuletzt, da wir auch in der medialen Landschaft der Gegenwart immer wieder mit ähnlichen Erklärungs- und Rechtfertigungsnarrativen konfrontiert werden.
Die Idee zu einem gemeinsamen Band geht auf eine Lehrveranstaltung zurück. Im Wintersemester 2020/21 haben wir – via Zoom – im Rahmen eines epochenübergreifenden Seminars an der Ruhr-Universität Bochum intensiv mit Studierenden über Niederlagen diskutiert. Das berühmte Diktum Reinhart Kosellecks ist für die Lehre ein wunderbarer Input – die Einschätzung ist provokativ, kann mit Beispielen untermauert, aber gleichermaßen auch kritisiert werden. Koselleck selbst hat dabei bekanntermaßen kaum Beispiele aus dem Mittelalter angeführt, was die Bearbeitung über die Grenzen der Epochendisziplinen hinweg besonders spannend macht. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Quellen und die Freude an diesem epochenübergreifenden Diskurs haben uns dazu gebracht, das Thema weiterzuverfolgen.
Beim Zusammenstellen der Tagung und des späteren Bandes war es uns wichtig, ein ausgewogenes Miteinander, einen Dialog auf Augenhöhe, herzustellen. Wir haben sehr darauf geachtet, dass beide Epochen ungefähr gleich stark vertreten sind. Wir wollten dabei sowohl jüngere als auch etablierte Forschende versammeln und ebenso Geschlechterparität erreichen. Das ist nicht immer vollständig zu erreichen – wir sind uns der Schwächen unserer Zusammenstellung natürlich deutlich bewusst. Dennoch hoffen wir, dass es uns gelungen ist, nicht einfach nur Beiträge aus zwei Epochen nebeneinanderzustellen, sondern zu demonstrieren, wie fruchtbar der Austausch sein kann.