L.I.S.A.: Ein Fokus der Ausstellung lag auf der Auseinandersetzung mit der Außenperspektive, dem westlichen Blick auf gebundene Füße. Sigmund Freud zum Beispiel erwähnte das Füßebinden in einem Aufsatz zum Fetischismus. Welche westlichen Wahrnehmungen lassen sich identifizieren? Was verrät diese Auseinandersetzung umgekehrt über die Wahrnehmung eigener westlicher Körperpraktiken?
Prof. Mersmann: Ziel unserer Ausstellung war es nicht, „das“ Füßebinden zu erklären, sondern zu untersuchen, wie die Füße chinesischer Frauen zum Gegenstand medizinischer, sozialer, politischer und schließlich auch feministischer Diskurse wurden.
Seit dem 16. Jahrhundert zeigten sich Missionare, Kaufleute, Fotografen fasziniert von der Zurückgezogenheit chinesischer Frauen. Kaum ein Reisebericht erwähnt ihre gebundenen Füße nicht. Dabei aber verschiebt sich der Ton: Während die frühesten Texte die Schönheitspraxis neutral oder gar positiv als Zeichen von Keuschheit beschreiben, werfen spätere Texte den chinesischen Männern vor, ihre Frauen einsperren zu wollen. Auf die Sinophilie der Aufklärung folgt der Chauvinismus des 19. Jahrhunderts. Frauen mit gebundenen Füßen wurden zum Signum eines ‚mumienhaften‘ Reiches, das sich dem Fortschritt verweigert, der nun – auch mit militärischen Mitteln – nach China gebracht werden sollte.
Dr. Rulffes: Asymmetrisch sind aber nicht nur die chauvinistischen Kommentare, sondern auch die wohlgemeinten der Missionar*innen und einiger Aktivist*innen, die mit Mitleid die vermeintlich gehunfähigen Frauen betrachten und nun – mit Bildung, aber auch mit Zwang – versuchen, die Frauen ‚auf ihre eigenen Füße zu stellen‘. Dass viele dieser Aufklärerinnen Korsett trugen, zeigt, wie sehr auch sie in patriarchale Strukturen eingebunden waren. Dabei wurde der Vergleich zum Korsett, aber auch zu Spitzenschuhen und High Heels, immer wieder gezogen; letztlich macht gerade die Konfrontation mit fremden Körperpraktiken die eigenen bewusst.
Prof. Mersmann: Freuds Erwähnung der gebundenen Füße in seinem Fetischismus-Aufsatz ist paradigmatisch für die Verbindung von Exotismus und Erotik. Tatsächlich wird die Rolle von Erotik für das Füßebinden oft überschätzt; vor allem seine weite Verbreitung in allen Schichten kann sie nicht erklären. Das Binden war eine weibliche Körpertechnik, die von weiblichen Familienmitgliedern weitergegeben wurde. Nichtsdestotrotz konnte sie sich nur in einer stark patriarchal organisierten Gesellschaft etablieren. Das Binden ermöglichte den Frauen, ihren Status in dieser Gesellschaft aufzuwerten.
Dr. Rulffes: Interessant ist auch die Verflechtung der Emanzipationsbewegungen um 1900: Parallel zu den verschiedenen Initiativen zur „Fußbefreiung“ in China (die von Chines*innen wie von Ausländer*innen gegründet worden waren) kämpften Frauen in Europa gegen das Korsett. Dabei nahmen sie sich wechselseitig zum Vorbild: Frauen im Westen nahmen Chinesinnen als emanzipiert wahr, weil sie Hosen trugen und Fahrrad fuhren, chinesische Journalistinnen priesen die „natürlichen“ Körper der westlichen Frauen. – Dass Hosen schon lange zur traditionellen chinesischen Kleidung gehörten und der aufrechte Gang der westlichen Frauen vom Korsett bestimmt wurde, spielte keine Rolle, denn das exotische Vorbild wurde jeweils genutzt, um die eigene Sache voranzubringen.