Die Zahl der Schönheitsoperationen steigt weltweit. Seit der Corona-Pandemie verzeichnen Schönheitskliniken eine wachsende Anzahl an Patientinnen und Patienten, die sich Nasenkorrekturen, Facelifts oder Brustvergrößerungen unterziehen. Dieser Anstieg wird gerne mit dem Körperbild in den sozialen Medien erklärt. Dass Schönheitseingriffe und andere nicht-invasive kosmetische Verfahren nichts Neues sind, zeigt der Blick in die Geschichte: Schon im antiken Ägypten verwendeten Frauen Make-Up. Im viktorianischen Zeitalter trugen sie Bleichmittel auf ihre Gesichter auf oder erzeugten mithilfe von Korsetts sanduhrförmige Figuren. In China wurden lange und bis ins 20. Jahrhundert hinein jungen Mädchen die Füße gebunden. Durch das Anlegen straffer Binden entstand ein kleiner, schmaler Fuß, der "Goldene Lotos" – ein Schönheitsideal. Diesem Phänomen haben die Kulturwissenschaftlerinnen Prof. Dr. Jasmin Mersmann und Dr. Evke Rulffes eine Ausstellung und einen Sammelband gewidmet. Wir haben die beiden Forscherinnen gefragt, wie dieses Phänomen zu erklären ist, wie der Westen darauf blickte und welche kolonialen Vorstellungen damit verbunden waren.
"Frage nach den Motiven lässt sich nicht einfach beantworten"
L.I.S.A.: Der vorliegende Sammelband ging aus einem Forschungs- und Ausstellungsprojekt hervor, dessen Ursprung wiederum eine Vitrine im Centrum für Anatomie der Humboldt-Universität war. Was war in dieser Vitrine? Können Sie den Prozess skizzieren, an dessen (vorläufigen?) Ende nun der Sammelband steht?
Prof. Mersmann: Die besagte Vitrine enthält eine Auswahl der podologischen Sammlung des Anatomen Hans Virchow: Neben Abgüssen der Füße des Fußvirtuosen Carl Herrmann Unthan sind Fotos, Modelle, Abgüsse, Röntgenbilder und auch Knochenpräparate gebundener Füße chinesischer Frauen ausgestellt. Damit drängten sich viele Fragen auf: Wann und wie kamen diese Füße nach Berlin? Wer waren die Frauen, denen sie abgenommen wurden? Aus der Recherche entwickelte sich der Plan zu einer Ausstellung, die schließlich im Hamburger Museum am Rothenbaum. Künste und Kulturen der Welt (MARKK) gezeigt wurde und aktuell im TA T Berlin zu sehen ist. Durch die umfangreiche Südostasiensammlung des MARKK und die Zusammenarbeit mit Sinolog*innen wurde es möglich, den Fokus von den Füßen auf die chinesischen Frauen und ihre ganz unterschiedlichen Biographien und Lebenswelten zu weiten, mit einem Schwerpunkt auf der Zeit um 1900.
Die Herausforderung bestand nicht nur darin, die Wege nachzuzeichnen, auf denen die Exponate an die Berliner Universität gelangten, sondern auch einen Zugang zu der Körpertechnik zu finden, der nicht bei Entrüstung oder Mitleid stehen blieb. Dabei halfen insbesondere die Studien der Kulturhistorikerin Dorothy Ko, die das Füßebinden als „situierte Praxis“ beschreibt, die über den langen Zeitraum von fast eintausend Jahren in unterschiedlichen Regionen und Konstellationen immer wieder andere Bedeutungen und Zuschreibungen erfahren hat.
Dr. Rulffes: Die Frage nach den Motiven für das Binden und die Persistenz dieser Praxis bis ins 20. Jahrhundert lässt sich nicht einfach beantworten. Für den Sammelband haben wir deshalb führende Expert*innen – Melissa Brown, Hill Gates, Dorothy Ko, John Shepherd und Miao Yan-Wei 苗延威 – zu einem „Forum“ eingeladen, in dem ökonomische, politische, soziologische und kulturelle Erklärungsansätze vorgestellt werden. Dazu kommen interdisziplinäre Beiträge zu Medizin- und Kolonialgeschichte sowie Aufsätze zur chinesischen und europäischen Frauenbewegung. Der Band ist als Buch, aber auch open access verfügbar.