Ist das Ungeduld, wenn inzwischen vermehrt Stimmen nach einer Lockerung des Lockdowns rufen? Oder ist das nur vernünftig angesichts der eingedämmten Fallzahlen und den gegenwärtig offenen Kapazitäten in Kliniken und Krankenhäusern? Oder ist es gar am Ende fahrlässig, ohne einen Impfstoff zur Stelle zu haben, Schulen, Universitäten, Geschäfte und andere geschlossene Einrichtungen langsam wieder zu öffnen? Die Experten sind sich uneiniger denn je - national und international. In Ihrem gemeinsamen CoronaLogBuch, jetzt Nummmer 14, fragen Jürgen Zimmerer und Georgios Chatzoudis ihre Gäste Ulrike Guérot und Matthias Krämer, wer zurzeit für welche Maßnahmen eintritt und aus welchen Motiven die jeweiligen Positionen bezogen werden.
"Die Aushebelung von Grundrechten muss stets neu begründet werden"
Chatzoudis: Guten Morgen! Es mehren sich derzeit die Stimmen, die nach einer Lockerung der Corona-Maßnahmen rufen. Die Grünen in Hamburg beispielsweise fordern das, einzelne Bundesländer haben sich entsprechend geäußert, und auf der globalen Ebene hat US-Präsident Trump drei Phasen vorgeschlagen, um die Maßnahmen zurückzufahren. Andere Stimmen warnen indes vor einer zu frühen Rücknahme der Einschränkungen, einige Länder wie Spanien haben die Dauer der Kontaktsperre eher verlängert. Zu fragen wäre in diesem Zusammenhang, welche politischen Lager sich hier gerade ausbilden? Was ist wem und warum wichtig, wer spricht sich aus welchen Gründen und Motiven für was aus - Sicherheit, Bürgerrechte oder die Wirtschaft? Anders gefragt: Lockdown oder Lockerung. Wie sortiert sich das politische System angesichts des Coronavirus?
Guérot: Die "Lager" heißen derzeit Ministerpräsident Laschet in NRW "gegen" Ministerpräsident Söder in Bayern. Auf Laschets Seite stehen auch der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft Hüther und der Virologe Streeck.
Krämer: Ich würde die Lager einteilen als Kontakt-Reduktion versus Öffnung. Beide lassen sich dann wieder unterteilen, einerseits strengere Kontakt-Reduktion oder weiter wie bisher. Auf der Gegenseite stehen die Öffnungsbefürworter, die entweder mit wirtschaftlichen oder mit rechtsstaatlichen Bedenken gegen Kontakt-Reduktions-Maßnahmen sind.
Chatzoudis: Aber die Frage nach Lockdown oder Lockerung scheint ja gerade quer durch alle Lager zu gehen. Die Grünen und Trump auf einer Linie in Sachen Corona?
Krämer: Die Spaltung geht quer durch die herkömmlichen Lager. In diesem Sinne haben wir momentan neue Lager.
Zimmerer: Eine Frage, die wir diskutieren müssten, ist die, weshalb wer für die Lockerung und wozu ist. Laschet hat hier die Glaubwürdigkeit der Politik doch sehr beschädigt, indem er etwa Möbelhäusern das Öffnen in Aussicht stellte, ohne das auch irgendwie sinnvoll zu kommunizieren. Dass in NRW nun auch noch eine Diskussion über die Heinsberg-Studie dazukommt, macht das nicht besser - im Gegenteil.
Guérot: Ich finde es völlig plausibel, dass in dem Moment, wo sich die Krise abschwächt - Stichwort: Italien, das Krankenhaus in Mailand hat keine Patienten mehr -, die Maßnahmen neu gerechtfertigt werden müssen. Die ganze Gesellschaft und die Folgekosten müssen auch in den Blick genommen werden. Es gibt nicht "nur" Corona-Tote, wir sind keine single issue-Gesellschaft. Die Aushebelung von Grundrechten muss stets neu begründet werden. Eine Gesellschaft ist immer eine Gesamtgesellschaft. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit müssen 100 Prozent der Menschen in den Blick genommen werden. Deswegen kann so ein Lockdown nicht unbegrenzt weiter gehen.
Krämer: Aber wir können doch annehmen, dass die Zahl der Infizierten wieder nach oben geht, wenn die Maßnahmen gelockert werden.
Zimmerer: Ich denke, das ist wissenschaftlicher Konsens.
Guérot: Es gibt viele Ärzte, die "Herdenimmunität" für wünschenswert halten, sofern es denn kontrolliert geschieht.
Zimmerer: Es ist anscheinend noch nicht einmal sicher, dass man eine Immunität aufbaut.
Krämer: Der Begriff "Herdenimmunität" gehört in die Zeit NACH einer Impfung und ist die Begründung für eine Impfpflicht, die im Übrigen ja auch einen Eingriff in ein Grundrecht darstellt.
Guérot: Abgesehen davon, bedeutet infiziert zu sein noch lange kein Todesurteil. 96 Prozent der Menschen kommen gut durch, das muss gesagt werden!
Zimmerer: Aber vier Prozent kommen eben nicht durch.
Guérot: Ja, aber andere Leute sterben auch. 28.000 Grippetote gab es in Deutschland 2017. Jedes Prozent Arbeitslosigkeit erhöht die Suizidrate um 0,8 Prozent. Mein Vater hat sehr große Schmerzen, weil er keine Operation bekommt und seit Wochen vertröstet wird. Dabei stehen die Betten in Grevenbroich leer.
Krämer: Notwendige Operationen sind nirgendwo in Deutschland untersagt.