L.I.S.A.: Was genau steht in den Tagebüchern? Rein „Wissenschaftliches“ oder finden sich darin auch persönliche Gedanken und Positionen? Wie groß war die Überwindung, diese offenzulegen und sich dadurch möglicherweise auch fachlich angreifbar zu machen?
Dr. Lehmbrock: Die Tagebücher sind insgesamt sachlich gehalten. Ich habe den Schritt sie zu veröffentlichen trotzdem über Jahre herausgezögert. Geholfen haben mir am Ende die zeitliche Distanz und die Tatsache, dass mein Buch inzwischen eine positive Resonanz in der Wissenschaft gefunden hatte. Ein Restunbehagen bleibt natürlich bestehen. Wird man mir Denkfehler nachweisen können? Habe ich Wichtiges übersehen? Ist das alles trivial?
Ausschlaggebend war am Ende noch etwas anderes: Die Tagebücher zeugen von einem schwierigen Start in der Wissenschaft. Ich war von der Ausbildung her viel mehr Philosophin als Historikerin, was man meinem Bewerbungs-Exposé für das Promotionsstipendium auch ansieht. Als ich am Jenaer Lehrstuhl für Naturwissenschaftsgeschichte angenommen wurde, musste ich die philosophische Idee in ein historisches Forschungsprojekt umwandeln. Die Operationalisierung ist mir unheimlich schwergefallen. Mein Betreuer sagte: „Sie schwimmen. Sie schwimmen total!“ Das ging über Monate, in denen ich auch mein erstes Kind bekommen habe. Die Situation war belastend, ein Gefühl stellte sich ein, dass ich ‚alles‘ erst lernen müsse. Das Tagebuchführen entstand aus dieser Not heraus, erkennbar an den ersten Einträgen, die überschrieben sind mit „Was habe ich gemacht?“ Ich wollte mir offenbar Rechenschaft darüber ablegen, dass und was ich gearbeitet hatte. Dazu gehörte neben dem Inhaltlichen, der Quellensuche usw., eben auch, dass ich mir die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze des akademischen Arbeitens klarzumachen versuchte. Diese Ebene ist neben der sachlichen auch in den Tagebüchern enthalten.
Vielleicht gibt es Promovierende, die sich gerade mit einem Kaltstart in der Wissenschaft versuchen, in einer neuen Disziplin Fuß fassen oder sich aus anderen Gründen dafür interessieren, wie man aus einer misslichen Lage wieder herauskommt. Die Tagebücher zeigen exemplarisch, wie so etwas gelingen kann.