„Augen auf im Straßenverkehr“ heißt es im Kinderlied und „Runter vom Gas!“ auf Autobahnplakaten. Bis heute begleiten Maßnahmen der Verkehrserziehung die Menschen von der Wiege an, um sie zu befähigen, den Unsicherheiten des sich verdichtenden Straßenverkehrs kompetent zu begegnen. Doch welche Kompetenzen sind das eigentlich? Auf welche Weise wird versucht, die Menschen zu verkehrsgerechtem Verhalten zu motivieren? Und: In welchem Verhältnis stehen Eigenverantwortung und Sicherheit in einer demokratisch verfassten Gesellschaft zueinander? Diese und weitere Fragen haben wir dem Historiker und Stipendiaten der Gerda Henkel Stiftung, Dr. Kai Nowak, gestellt.
"Frage nach dem gesellschaftlich hinnehmbaren Maß an Unsicherheit"
L.I.S.A.: Herr Dr. Nowak, Sie untersuchen derzeit im Rahmen Ihres Habilitationsprojekts die Verkehrserziehung in (West-)Deutschland von 1900 bis 1992. Bevor wir zu einigen Details Ihres wissenschaftlichen Vorhabens kommen: Was hat Sie dazu bewogen, sich dieses Themas anzunehmen? Welche Überlegungen gingen Ihren Studien voraus?
Dr. Nowak: Am Anfang stand, ähnlich wie Achim Landwehr es mal beschrieben hat, das Sich-Wundern über vermeintliche Selbstverständlichkeiten. Zum einen habe ich mich als leidenschaftlicher Radfahrer gefragt, warum eigentlich das Autofahren für viele als Inbegriff individueller Freiheit gilt, obwohl man sich hinterm Steuer vergleichsweise umfassend körperlich und kognitiv zurichten lässt. Man sitzt fixiert, nur wenige Handgriffe und Fußbewegungen ausübend, mit einem kontinuierlich disziplinierten Blick in einer Blechkiste, räumlich abgeschottet von der Umwelt und den Mitmenschen. Man unterwirft sich aus freien Stücken der Vielzahl geschriebener und ungeschriebener Verkehrsregeln, die die eigenen Verhaltensspielräume deutlich einschränken. Zum anderen bewegen sich auf der Straße eine Vielzahl an Menschen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten mit unterschiedlichen Interessen. Bei einem derart komplexen, ständige Synchronisationsleistungen erfordernden System ist es doch verwunderlich, dass der Straßenverkehr überhaupt funktioniert und nicht noch deutlich mehr Unfälle passieren.
Das Automobil gibt es seit mehr als 130 Jahren, seit knapp 70 Jahren sprechen wir – zumindest für Westdeutschland – von einer Massenmotorisierung. In diesem Zeitraum hat sich der Straßenraum selbst fundamental verändert, und auch das Risiko, sich darin unbeschadet zu bewegen. Die Straße wurde zu einem Ort der Aushandlung des politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Selbstverständnisses. Dazu gehört ganz zentral auch die Frage nach dem gesellschaftlich hinnehmbaren Maß an Unsicherheit, oder positiv formuliert: Wie wurde im historischen Wandel versucht, ein hinreichendes Vertrauen in den Straßenverkehr herzustellen?
Eine Antwort darauf war schon recht früh: Verkehrserziehung. Deren Konzepte und Strategien standen im Wechselverhältnis mit den sich ändernden Verkehrsverhältnissen, technologischen Innovationen und wissenschaftlichen Entwicklungen. Durch die Brille der Verkehrserziehung lässt sich anhand individueller Mobilität ein spannender Blick darauf werfen, wie ein grundlegender Modus moderner Gesellschaft funktioniert, wie er sich über die Jahrzehnte wandelte und welche Ordnungsvorstellungen dabei zum Tragen kamen. Und es bleibt weiterhin spannend: Auch die gegenwärtige Verkehrswende oder die in Zukunft bevorstehende Einführung (teil-)autonomer Fahrzeuge wird von der Verkehrserziehung aufgegriffen und reflektiert werden müssen.