Goethe lässt Faust in einem seiner Monologe sagen: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Abgesehen davon, dass damit gemeint ist, nur genutzter Besitz sei wirklich von Wert, deutet sich darüber hinaus hier der Nexus aus Familie, Erbschaft und Eigentum an. Wer erbt von wem was und wozu? Erbschaftsfragen sind so gesehen ursprünglich und universell, variieren aber je nach Epoche, Gesellschaft und Kultur. Erbschaften sind zudem mit Fragen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit verbunden. Verstetigt Erben soziale Ungleichheit? Der Historiker PD Dr. Jürgen Dinkel hat sich in seiner neuen Monographie mit der Praxis des Erbens im 19. und 20. Jahrhundert befasst und nimmt dabei eine vergleichende transatlantische Perspektive ein. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Erbtransfers berühren das Verhältnis von Staat, Familie und Individuum"
L.I.S.A.: Herr Dr. Dinkel, Sie haben sich im Rahmen Ihrer Habilitation mit der Geschichte von Eigentum und Erbschaft in der Moderne beschäftigt. Die aus Ihrem Forschungsprojekt hervorgegangene Habilitationsschrift liegt nun vor, erschienen unter dem Titel „Alles bleibt in der Familie. Erbe und Eigentum in Deutschland, Russland und den USA seit dem 19. Jahrhundert“. Bevor wir zu einigen Details Ihrer Untersuchung kommen – was hat Sie zu diesem Thema geführt? Welche Überlegungen und Studien gingen dem Projekt voraus?
PD Dr. Dinkel: Zum Thema „Erben“ hat mich mein Interesse an Ungleichheiten geführt. Die Fragen, wie Ungleichheiten entstehen, sich perpetuieren, sich intersektional gegenseitig verstärken oder abschwächen, beschäftigen mich schon lange. Nach Abschluss meiner Dissertation zur Bewegung Bündnisfreier Staaten, die als internationale Organisation Ungleichheiten im globalen Maßstab beseitigen wollte, begann ich mit der Suche nach einem Thema, das mich näher an einzelne Menschen und konkrete, alltägliche Ausprägungen von Ungleichheit heranführen sollte.
Das Thema „Erben“ bietet sich hierfür an. Bei der Durchsicht von Nachlassakten, Testamenten und Gerichtsprotokollen hatte ich plötzlich einzelne Menschen und ihre Familien, ihre Befindlichkeiten und zwischenmenschlichen Beziehungen klar vor Augen. Zugleich faszinierte mich, wie im Erbprozess Emotionen und materielle Fragen, Gerechtigkeits- und Familienvorstellungen sowie vergangene Erfahrungen und Zukunftserwartungen miteinander verwoben sind. Erbtransfers berühren das Verhältnis von Staat, Familie und Individuum und je nachdem wie Erbe verteilt wird, hat dies weitreichende Folgen für individuelle Lebensplanungen, familialen Zusammenhalt und gesamtgesellschaftliche Ungleichheiten. Mich interessiert bis heute, wie Politiker, Familien und Individuen die Fragen beantworten und begründen: Wer soll über die Verteilung von Erbe entscheiden und wer soll Erbe erhalten?