L.I.S.A.: In der Resolution heißt es sinngemäß, die Sowjetunion habe aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes den Zweiten Weltkrieg gleichermaßen begonnen und zu verantworten wie das nationalsozialistische Deutschland. Diese These spricht gegen die bisherige historische Forschung mit Blick auf Ursachen, Wirkungen und Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Ein Akt von Geschichtsrevisionismus?
Prof. Hilbrenner: Der Wunsch, den Hitler-Stalin-Pakt als Ausgangspunkt des Zweiten Weltkriegs in der europäischen Erinnerung zu etablieren – mit der Konsequenz, dass die Sowjetunion und Deutschland gemeinsam als Täter in den Fokus der Kriegserinnerung geraten – ist nicht neu. Die osteuropäischen Länder Polen, Estland, Lettland und Litauen haben seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union im Jahr 2004 dieses als ihr zentrales geschichtspolitisches Anliegen vorangetrieben und 2011 mit der Etablierung eines Gedenktages für die Opfer der beiden durch „Staatsterror und Massenmord geprägten totalitären Systeme“ am 23. August, dem Tag, an dem der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet worden war, auch vorläufig erreicht. Diese Bemühungen sind aber auch bisher weitgehend unter dem Radar der deutschen Öffentlichkeit und offensichtlich auch weiter Teile der Geschichtswissenschaft geblieben, mit Ausnahme vielleicht der an Ostmitteleuropa und an Geschichtspolitik interessierten Kolleginnen und Kollegen. Es ist offensichtlich, dass dieser für die osteuropäischen Staaten so wichtige Tag für die deutsche und darüber hinaus für die westeuropäische Erinnerungspolitik so gut wie keine Rolle spielt. Kaum jemand hierzulande gedenkt am 23. August des Hitler-Stalin-Paktes, noch viel weniger Menschen der „Opfer totalitärer Regime“. Diese Kluft zwischen den Erinnerungsanliegen der europäischen Neumitglieder (seit 2004) und der im europäischen Kreis schon länger Etablierten, gilt es, bei der Beantwortung der Fragen zur aktuellen Resolution mitzudenken.
Als Claudia Weber in diesem Sommer zum 80. Gedenktag des Hitler-Stalin-Paktes ihr Buch „Der Pakt“ veröffentlichte, konstatierte sie genau diese Abwesenheit der Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt in Deutschland und in Westeuropa aus der Perspektive der Osteuropahistorikerin. Zurecht schreibt sie von einem westeuropäisch zentrierten Geschichtsbild, dass die „grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte“. Der Hitler-Stalin-Pakt sei, so Weber, erinnerungspolitisch nach Osteuropa ausgelagert worden, womöglich aufgrund des Unbehagens, dass die Beschäftigung mit ihm in Westeuropa und vor allem in Deutschland auslöst. Die Gewissheiten unseres Geschichtsbildes werden durch diesen Pakt erschüttert: „Tatsächlich wohnt der Geschichte der Verstrickung von Nationalsozialismus und Stalinismus eine revisionistische Kraft inne.“ Und tatsächlich rührt die Frage nach dieser Verstrickung an den Grundfesten unseres deutschen Geschichtsbildes. Gerade deshalb ist es doch interessant, dass die Bemühungen der osteuropäischen KollegInnen um eine gesamteuropäische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg erst mit 15-jähriger Verspätung zu vielen von uns durchdringen. Es lohnt sich also vielleicht, noch einmal ins Jahr 2004 zurück zu kehren, in dem diese Bemühungen ihren Anfang nahmen:
Als die lettische EU-Kommissarin Sándra Kálniete auf der Leipziger Buchmesse im Jahre 2004 Stalinismus und Nationalsozialismus als „gleichermaßen verbrecherisch“ bezeichnete, stieß sie in Deutschland auf heftige Kritik. In weiten Teilen Ostmitteleuropas befanden die Beobachter dagegen, dass Frau Kálniete nur das Offensichtliche aussprach. Diese geteilte Reaktion spaltet nach wie vor das Gedächtnis Europas: Die Erinnerung an die nationalsozialistischen Massenverbrechen als singulär markiert eine Grenze zwischen dem Zentrum Europas (Westeuropa) und seiner Peripherie (Ostmitteleuropa). Im Westen evoziert die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg den Reflex: „Nie wieder Hitler, nie wieder Holocaust!“ Der Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus, der in den Augen seiner Kritiker eine Gleichsetzung impliziert, rührt auch in Deutschland selbst Jahrzehnte nach dem Historikerstreit noch an ein Tabu. Aber auf der anderen Seite der imaginierten Grenze, die das Zentrum Europas von der vermeintlichen osteuropäischen Peripherie trennt, steht der Ablehnung des Nationalsozialismus die Forderung: „Nie wieder Stalin, nie wieder sowjetische Herrschaft und die damit verbundenen Massenverbrechen!“ mindestens gleichberechtigt gegenüber.
Wenn wir jetzt noch weiter nach Osten blicken, ergibt sich ein überraschender Befund: Die Russische Föderation erinnert den Zweiten Weltkrieg anhand ganz ähnlicher Paradigmen, wie das europäische Zentrum: Der Große Vaterländische Krieg wurde sowohl in der Sowjetunion als auch im heutigen Russland als Sieg über den Faschismus erinnert. Dabei wird nach wie vor die „Befreiung“ der mittel- und osteuropäischen Länder von der faschistischen Besatzung als richtige und positive Tat interpretiert. So wurde der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg zum Zweiten Gründungsmythos der Sowjetunion.
Diese Legitimität erwuchs der Sowjetunion aus der Gegnerschaft zum nationalsozialistischen Deutschland. Aus der sowjetischen und russischen Erinnerung leitet sich die Forderung ab: „Nie wieder Hitler!“ Wobei das in Westeuropa immer mitgemeinte und für die Gedächtnisgemeinschaft zentrale „Nie wieder Holocaust!“ in den unterschiedlichen Phasen sowjetischer und russischer Erinnerung nur impliziert war – und häufig noch nicht einmal das.
Mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die vor allem ein „Nie wieder Hitler!“ in den Vordergrund des Gedenkens stellt und gegenüber dem „Nie wieder Stalin!“ privilegiert, fallen Westeuropa und Russland in einer (sicher von manchen ungewollten) Erinnerungsgemeinschaft zusammen. Die ostmitteleuropäische „Peripherie“ wird durch diese Erinnerungspraxis zu einem „Zwischeneuropa“ des europäischen Gedächtnisses – zur geschichtspolitischen Verfügungsmasse zwischen West und Ost – zwischen den Großmächten „Europa“ und Russland. Diese Marginalisierung Ostmitteleuropas, so könnte man pointiert formulieren, wiederholt auf erinnerungspolitischer Ebene die Verfügung über die Region durch Deutschland und die Sowjetunion im Hitler-Stalin-Pakt. Wem diese Pointierung zu radikal ist, wird dennoch einsehen, dass die hermetische Abschottung des westlichen Geschichtsbildes gegen die ostmitteleuropäische Erfahrung mit den Massenverbrechen von Nationalsozialismus und Stalinismus zur selben Zeit, die bereits Timothy Snyder in seinem Buch „Bloodlands“ so eindrücklich beschrieben hat, weder zulässig noch lauter ist. Timothy Snyder wendet sich ausdrücklich gegen dieses westeuropäische Geschichtsbild mit der Fokussierung auf die westlichen Opfer, dafür steht auch sein provozierendes Diktum, dass Auschwitz nicht die treffende Metapher für den Holocaust sei, weil dort vor allem westeuropäische und deutsche Juden ermordet worden sind. Es ist Snyders Anliegen, die geschichtspolitisch und historisch marginalisierten ostmitteleuropäischen Opfer in das Zentrum der Erinnerung zu rücken, und somit etwa Treblinka an die Stelle von Auschwitz zu rücken. Den Anspruch, mit dem westeuropäischen Geschichtsbild die Deutungshoheit über den Zweiten Weltkrieg in Osteuropa zu reklamieren, bezeichnet Snyder als „epistemischen Kolonialismus“.
Wenn Sie nun fragen, ob die Initiative der ostmitteleuropäischen Länder, die Erfahrung Opfer des Nationalsozialismus und zur gleichen Zeit Opfer des Stalinismus geworden zu sein, in den Mittelpunkt des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg zu stellen ist, ein Akt des Geschichtsrevisionismus ist, dann ist meine Antwort: Ja, ich denke, angesichts unseres eingeschränkten westeuropäisch zentrierten Geschichtsbildes rufen unsere ostmitteleuropäischen KollegInnen zu Recht zu einer Europäisierung der Erinnerung auf. Und ehrlich gesagt ist es doch unsere Aufgabe als HistorikerInnen „Vergangenheiten stets neu zu betrachten, umzudeuten, kurzum: die Geschichte der Revision zu unterziehen.“ (nochmal Claudia Weber). Über 30 Jahre nach dem Historikerstreit muss es erlaubt sein, die Frage nach den Verflechtungen von Nationalsozialismus und Stalinismus im Sinne einer Europäisierung des Weltkriegsgedenkens noch einmal neu zu stellen – und hoffentlich neu zu beantworten. Damit einhergehen soll keine Relativierung der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust, sondern eine Integration der Erfahrung der Menschen in Ostmitteleuropa, die im Zweiten Weltkrieg Opfer zweier verbrecherischer Staaten waren, die Massenverbrechen an Millionen von Menschen begangen haben.
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Nein, es ist keine Aufgabe von Geschichtswissenschaftlern, einem politischen Gebilde wie der EU den passenden ideologischen "Kitt" vermittels der diskursiven Durchsetzung eines politisch genehmen "Kollektivgedächtnisses" zu verpassen. Das hierin implizierte normative Primat ist in keiner Weise mit der Freiheit von Forschung und Lehre, die unsere Verfassung schützt, vereinbar.
Es ist definitiv nicht die Rolle der Geschichtswissenschaft in einem demokratischen Rechtsstaat, einer politisch motivierten Deutung der Vergangenheit die diskursive Hegemonie zu verschaffen. Allein das als Bestreben zu formulieren, ist Nachweis der totalitären Tendenzen des dahinter stehenden Denkens.
Historiker haben sich allein um die Frage der historischen Wahrheit zu kümmern und auch politisch nur da einzuschreiten, wo politische Macht sich anschickt, Verfälschung zu kanonisieren oder ihre Verbreitung zu verhindern. Das zugleich wisssenschaftlich wie politisch motivierte Engagement bedeutender deutscher Historiker im Historikerstreit war eben genau darin begründet, dass die geschichtsrevisionistischen Positionen der Fraktion um Ernst Nolte eben aus der Motivation heraus, die Schuld Deutschlands an dem fürchterlichsten Vernichtungskrieg aller Zeiten (so das Urteil sogar Ernst Noltes) zu relativieren, Wahrheit entstellten.
Genau dies tun die neuen Apolgetinnen und Apologeten der vermeintlichen Auslösung des Zweiten Weltkriegs durch den Pakt zwischen Stalin und Hitler auch - damit negierend, dass es absolut unbestritten ist, dass der Eroberungskrieg des "Lebensraum im Osten" das durchgängig seit 1925 konsequent verfolgte Kernprojekt Hitlers war, dem von allem Anfang an jede Eskalationsdynamik bis zum "totalen Krieg" inhärent war. Hitlers Äußerung noch vor dem Pakt, dass er die westlichen Mächte für zu dumm hielte zu verstehen, dass alles, was er je getan habe, vorrangig und ausschließlich gegen Russland gerichtet gewesen sei, lässt hier wenig Interpretationsspielraum, wie zahlreiche weitere Dokumente auch, die zu beleuchten sowohl Frau Weber wie Frau Hilbrenner vorsorglich unterlassen und hierdurch ein alarmierendes Beispiel geben, was mit Geschichtswissenschaft geschieht, wenn sie Wahrheitssuche von normativen Primaten abhängig macht.
Die mit einem solchen normativen Anspruch einhergehende Selbstüberhöhung und die damit einhergehenden Gefahren für die Wissenschaft zeigen sich in den folgenden beiden Zitaten Hilbrenners: Erstens: "Dennoch sind etwa wir HistorikerInnen nicht nur Akteure der Geschichtswissenschaft, sondern häufig auch Gestalter von Geschichtspolitik." Zweitens: "Ja, eine gemeinsame europäische Erinnerung ist absolut notwendig und wünschenswert! Aus meiner Sicht als Historikerin ist es für das Gelingen der europäischen Integration unerlässlich, dass wir uns auf eine gemeinsame europäische Geschichte berufen, die mehr ist, als eine reine Summe der Nationalgeschichten. Für die Nation, die als Zugehörigkeit stiftendes Projekt das 19. und das 20. Jahrhundert prägte, hat sich die Geschichte als zentrale Legitimationsressource etabliert. Wenn wir wollen, dass das europäische Projekt im 21. Jahrhundert gelingt, dann brauchen wir eine gemeinsame Erzählung, um Zugehörigkeit erfahrbar zu machen."
Was zeigen die Zitate? Frau Hilbrenner (und Interviews mit Frau Weber erweisen, dass sie das gleiche Selbstverständnis aufweißt) benennt als ein der konkreten Arbeit an historischen Forschungsprojekten vorrangiges und vorgelagertes Ziel, das kein wissenschaftliches, sondern ein politisches ist, womit sie Geschichtswissenschaft unter ein politisches Primat stellt. Geschichtswissenschaft soll sich also in den Dienst eines wissenschaftfernen, nämlich politischen Ziels stellen, nämlich den ideologischen Zement für das politische Gebilde der EU darbieten, weil nur dieses supranationale Gebilde den Rückfall in die Nationalismen verhindere.
Hier wird also wissenschaftliche Erkenntnis unter ein normatives politisches Primat gesetzt - strukturell und ideologisch jenen nationalistischen Historikern entsprechend, die im 19. Jahrhundert Fachkollegen vorwarfen, "Verräter der Nation" zu sein, wenn ihre Forschung nicht zur großen Erzählung von Deutschlands Herrlichkeit und Preußens Gloria betrügen. Nun musss Geschichte der Gloria der EU dienen. Und auch die diffamierende Verurteilung von Fachkollegen sind in Hilbrenners Darlegungen bereits angelegt, falls sie ihre Prioritätensetzung nicht teilen: Sie unterstellt ernsthaft Kollegen, die nicht bereit sind, ihre Forschung in den Dienst des von ihr priorisierten Narrativs zu stellen, verkappte Altstalinisten oder Nationalisten zu sein. Ergebnisoffenes Arbeiten gibt es in Hilbrenners Kosmos offenbar gar nicht - und das im Falle einer empirischen Wissenschaft. Diese Frau merkt gar nicht, dass sie - darin ideologischen Apologeten des Nationalismus gleich, selbst Apologetentum fordert, nur für ein anders aufgestelltes politisches Machtgefüge - ein Anspruch, der jedoch zutiefst Wissenschaft widerspricht.
Wenn ich die Reihe der Historiker betrachte, die durch ihre empirische Arbeit - seit Beginn der am intensivsten geführten Forschungskontroverse der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft, dem Historikerstreit nämlich, durch zähe Quellenarbeit nämlich, nachgewiesen haben, dass die Eskalationsdynamik des Vernichtungskriegs und die gesamte daraus sich entwickelnde Zerstörung zweifellos ihre Ursache allein im Aggressions-, Eroberungs- und Vernichtungswillen des nationalsozialistischen Regimes und seines Führers Adolf Hitlers hatte, was Verbrechen der stalinistischen Diktatur ja in keiner Weise in Abrede stellt, nur dass die eben nicht die Auslöser für den Zweiten Weltkrieg waren, dann ist das demagogische Potenzial ihrer von normativer Warte formulierten Pauschalverurteilung atemberaubend beträchtlich: Die Historiker, deren empirische Befunde sich nämlich nicht in Hilbrenner/Webers Deutungsnarrativ einfügen lassen, umfassen Namen wie Eberhard Jäckel, Martin Broszat, Wolfgang Benz, Wigbert Benz, Gerd Ueberschär, Wolfram Wette, Rolf-Dieter Müller, Jürgen Zarusky, Stephan Merl und Bernd Bowetsch - um nur einige zu nennen.
Doch Hilbrenner gibt nicht nur die Grundlagen von Wissenschaft preis, wenn sie die unter ein politisches Primat stellt, sondern beruft sich auch zu unrecht auf den von Hannah Ahrendt stammenden Totalitarismusbegriff. Die nämlich hielt Demokratien in keiner Weise für sui generis immun gegen Totalitarismus. In ihrem Aufsatz "Über Wahrheit und Lüge in der Politik" benennt sie genau den kritischen Punkt, an dem demokratische Systeme in den Totalitarismus zu kippen drohen, nämlich, wenn sie nicht mehr zwischen Tatsachenwahrheiten und Meinungen/Bewertungen/Deutungen unterscheiden können. Während jedes liberale Verständnis akzeptiert, dass es im Falle von Tatsachenaussagen, aus deren Eruierung Politik in liberalen Staaten sich herauszuhalten hat, nur darum geht, ob diese richtig oder falsch sind. Solche ergo unter einen Gesinnungsverdacht zu stellen, wie Hilbrenner dies tut, ist damit prinzipiell autoritär - und ein Missbrauch von Wissenschaft. Wenn Aussagen für falsch befunden werden, gehören sie fachwissenschaftlich vermittels widersprechender empirischer Befunde widerlegt. Dagegen müssen in einer liberalen Gesellschaft Meinungen, Deutungen und Bewertungen auf der Grundlage der vollständigen Menge ermittelter Tatsachenwahrheiten, welche nämlich u.a. von subjektiven Prämissen und Prioritäten beruhen, dem freien Spiel demokratischer Diskussionsprozessse zur Verfügung stehen. Auch hier ist eine Normierung von oben, sofern sie über verfassungsmäßige Prinzipien hinausgeht, mit dem demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar.
Es ist bezeichnend, dass Weber, genau wie Hilbrenner, Kritik mit normativen (d.h. moralisierenden) Angriffen ad personam pariert. Webers Monographie erfuhr durch ihren Fachkollegen, den Kölner Historiker Jost Dülffer, eine niederschmetternde, aber rein fachlich ausgerichtete, nämlich auf ihre selektive Berücksichtigung von Quellen und ihre mangelnde Quellenkritik abhebende, Kritik. Dülffer schrieb in der SZ am 18.8.19: "Was an dem Buch stört, ist der durchgängige Gestus des Innovativen, wo doch Sachverhalte dargelegt werden, die seit den 1950er-Jahren im Westen diskutiert werden. Im letzten Jahrzehnt des Ostblocks wurden "Westler" dort wiederholt eingeladen, weil sie vom Geheimen Zusatzprotokoll reden konnten, was die östlichen Kollegen tapfer nicht weiter kommentieren durften, aber immerhin zur Kenntnis nahmen. Das war aber nicht der Anfang der Forschung. Weber stützt sich zu den allgemeinen Beziehungen (neben einer alten Edition von 1949) fast durchgängig auf eine populäre Quellenedition aus den letzten Tagen der DDR aus dem Jahr 1990 (Pätzold und Rosenfeld), gelegentlich auf Internetfunde. Die grundlegende deutsche Edition in über einem Dutzend Bänden scheint unbekannt zu sein. Das ist für eine Wissenschaftlerin nicht seriös. Schlimmer aber: Bei ihrem Durchgang durch die deutsch-sowjetischen Beziehungen seit den frühen 1920er-Jahren zitiert sie in Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Fällen die Memoiren der betroffenen deutschen oder sowjetischen Protagonisten, als ob dies nicht durchgängig nachträglich geschönte Versionen eigenen Tuns waren. Tatsächlich liegen ja vielfach die weniger anschaulichen amtlichen Aufzeichnungen in den Editionen vor. Dass das so nicht geht, lernt ein Studienanfänger an der Universität im ersten Semester. Quellenkritik ist unbekannt, wie ein anderes Beispiel zeigt: Im Rahmen der diversen Umsiedlungen hätten die Deutschen den Russen gesagt, sie wollten nicht noch mehr Juden im deutschen Bereich haben, die Russen sollten sie "doch selbst liquidieren". Wo hat Weber das her? Polens Exilministerpräsident Stanisław Mikołajczyk, der damals in London saß, hatte das im Gespräch mit US-Zeitungen erklärt. Woher er das hatte, ob das stimmte oder nicht, ob es andere Quellen dafür gibt, interessiert nicht; es passt so schön." Verheerender geht es wohl kaum, aber persönliche Angriffe gibt es hier nicht.
Wie aber antwortet Weber auf diesen Verriss? Auf Dülffers inhaltliche und methodische Kritik mit keinem Wort reagierend, entledigt sie sich des Vorwurfes durch eine ad hominem gerichtete Spekulation aus dem Trivialitätenreservoir abgestandenster Genderdebatten. Da der Kollege etwas an ihrer Arbeit auszusetzen hat, muss er ein unrettbarer Macho sein. In einem Interview des brandenburgischen Nachrichtenportals MOZ psychologisiert sie:
"Ich befürchte, da bin ich mit meinen Äußerungen in ein Wespennest gestoßen. Meine Beobachtung ist, dass den NS- und Dikaturforscherinnen nur Themen zugestanden werden, wie - salopp - gesagt Kochbücher im Dritten Reich. Über die wirklich harten Themen, wie Gewaltverbrechen und Zusammenarbeit der Geheimdienste, dürfen Historikerinnen nicht forschen. Es sind Männer-Themen. Und wenn sie es doch machen, dann machen sie es halt schlecht. Und dann bin ich als ostdeutsche Historikerin gekommen und habe den Vorwurf erhoben, "ihr habt da was jahrzehntelang übersehen, ihr habt da nicht hingeduckt"."
Hier wird gut deutlich, was Weber und Hilbrenner einerseits von Wissenschaft, andererseits von einem liberalen Diskurs halten. Das ist autoritäres Denken pur, einhergehend mit der Bereitschaft, historische Tatsachenbehauptungen der Überprüfung nach fachwissenschaftlichen zu entziehen und ihnen durch das, was im englischen Raum "character assassination" nennt, die Weihe der Deutungshoheit zu verleihen.
1986 verkündete Jürgen Habermas, als er die massive Kampagne Ernst Noltes in den konservativen Blättern der Republik erlebte, er fürchte um die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. So geht es mir bei dem Hype um Geschichtsnarrativen wie die von Weber und Hilbrenner. Denn im Prinzip betreiben sie das gleiche wie das rechte Milieu der Geschichtsrevisionisten. Wie diese versuchen sie einer normativ definierten Sicht auf Geschichte politische Deutungshoheit zu verschaffen, unter Bereitschaft, die empirische Wahrheit zu entstellen. Dass dies im Namen eines dogmatischen Libertinismus erfolgt, der aber allen Prinzipien des Liberalismus widerspricht, macht das Ganze nicht beruhigender.