Erinnerungen, individuelle und kollektive, sind immer selektiv. Das liegt zum einen in der Natur der Sache - nicht alles Vergangene kann ewig memoriert werden, aber es liegt auch an Fragen wie: Was soll dauerhaft ins Gedächtnis einfließen? An was will man sich erinnern? Was soll oder muss sogar vergessen werden? Stellt man diese Fragen an eine Gesellschaft, sind die Antworten Teil ihrer kollektiven Erinnerungskultur. Nimmt man beispielsweise die Erinnerung an prägende Akteure des historischen Konflikts zwischen Arbeit und Kapital in den Blick, insbesondere Arbeitgeber auf der einen und Arbeitnehmer auf der anderen Seite, fällt auf, dass Unternehmer in der Erinnerung wesentlich präsenter sind als Gewerkschafter: Robert Bosch, Gottlieb Daimler, Werner von Siemens, Alfred Krupp, Fritz Henkel usw. Wer aber erinnert sich heute noch an einen Gewerkschafter wie Alwin Brandes, dem Arbeitnehmer heute eine Reihe von sozialpolitischen Leistungen sowie Verbesserungen der Arbeitsbedingungen zu verdanken haben? Der Historiker und Politikwissenschaftler Dr. Stefan Heinz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, und der Historiker Prof. Dr. Siegfried Mielke von der Freien Universität Berlin haben diese Frage zum Anlass genommen, um den heute weitgehend vergessenen Gewerkschafter wieder ins Gedächtnis zu rufen. In ihrer gemeinsamen neuen Publikation Alwin Brandes (1866–1949). Oppositioneller – Reformer – Widerstandskämpfer stellen sie den ersten Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) in einer breit angelegten Biographie vor. Wir haben Dr. Stefan Heinz dazu unsere Fragen gestellt.
"Den einen galt er als 'rechter', den anderen als 'linker' Sozialdemokrat"
L.I.S.A.: Herr Dr. Heinz, gemeinsam mit Prof. Dr. Siegfried Mielke haben Sie einen gewichtigen Band in der Reihe „Gewerkschafter im Nationalsozialismus“ veröffentlicht. Auf mehr als 500 Seiten stellen Sie Leben und Wirken des Gewerkschafters Alwin Brandes vor – ein weithin unbekannter Mann. Was hat Sie bewogen, sich Alwin Brandes zu widmen?
Dr. Heinz: Alwin Brandes ist zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Er zählte zu den einflussreichsten und bekanntesten Gewerkschaftern in der Weimarer Republik. Brandes war bedeutender Akteur während der Novemberrevolution und von 1919 bis 1933 einer der Vorsitzenden des Deutschen Metallarbeiterverbandes (DMV) – damals nicht nur die mitgliederstärkste Gewerkschaft der Weimarer Republik, sondern sogar die größte der Welt. Brandes war Repräsentant seiner Gewerkschaft auf internationaler Ebene und langjähriger Wirtschafts- und Sozialpolitiker im Reichstag. Nach 1933 war der aktive Gewerkschafter „Kopf“ einer der bedeutendsten gewerkschaftlichen Widerstandsgruppen gegen das NS-Regime. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges gehörte er zu den scharfen Kritikern der Entwicklung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) zu einer zentralistischen Gewerkschaft unter Führung der SED in der Sowjetischen Besatzungszone. Der Lebensweg von Brandes ist verflochten mit bedeutenden Ereignissen des vergangenen Jahrhunderts. Soweit es möglich war, engagierte sich der Gewerkschafter in den insgesamt vier politischen Systemen, in denen er lebte, für eine Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft.
In dem Maße, wie der zeitliche Abstand zum letzten Jahrhundert zunimmt und sich sowohl die Arbeitnehmerschaft als auch gewerkschaftliche Politik verändert haben, ermöglicht die Beschäftigung mit wichtigen Akteuren der Gewerkschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts eine Diskussion über gesellschaftliche Verhältnisse in Vergangenheit und Zukunft. Die vielfältigen Aktivitäten von Alwin Brandes, der für mehr als zehn Jahre an der Spitze des DMV, der Vorläuferorganisation der heutigen IG Metall, stand, waren Gründe genug für eine ausführliche Beschäftigung mit der Biografie des Gewerkschafters. Interessant ist, dass Brandes nach seinem Tod in der Rückschau von Gewerkschaftern unterschiedlich bewertet wurde. Den einen galt er als „rechter“, den anderen als „linker“ Sozialdemokrat. Die einen beschrieben ihn als „mitreißenden Redner“, die anderen als eher „farblose Gestalt“.
Problematisch war, dass kein Nachlass von Brandes überliefert ist. Insofern mussten wir zahlreiche, zum Teil europaweit verstreute Quellen in verschiedensten Archiven einsehen. Ausgangspunkt für die Aufarbeitung des gewerkschaftspolitischen Lebensweges bildete die Frage nach Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten von Brandes. So erhofften wir, neue differenzierte Erkenntnisse zu gewinnen. Eine Leitfrage, die nach Handlungsspielräumen bei Entscheidungen von Brandes fragt, ließ sich aber nur dann hinreichend beantworten, wenn neben gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Faktoren den wichtigen Fragen nach innergewerkschaftlichen Differenzen intensiv nachgegangen wird. Schließlich entschieden diese ebenso über Erfolg und Misserfolg individuellen Handelns. All dies schließt die Frage nach dem Beitrag von Brandes zu Erfolgen und Misserfolgen gewerkschaftlicher Politik insgesamt ein. Brandes wird von uns als vielfältige Person seiner Zeit gesehen, die von Gesellschaft und Wirtschaft geprägt wurde. Zugleich gestaltete er diese mit einmal mehr und oft auch weniger Spielraum mit. Unsere Biografie fragt nach Kontinuitäten und Brüchen im Handeln von Brandes und Gründen dafür. Dieses Herangehen an eine Biografie ist spannend!