Johannes Plate, Freie Universität Berlin
Ein Jahr nach Kriegsende schlug der greise Friedrich Meinecke 1946 in seiner Schrift „Die deutsche Katastrophe“ vor, in allen deutschen Städten „Goethegemeinden“ zu gründen, um „die lebendigsten Zeugnisse des großen deutschen Geistes durch den Klang der Stimme den Hörern ins Herz zu tragen“ und so „in allem Unglück unseres Vaterlandes und inmitten der Zerstörung etwas Unzerstörbares, einen deutschen character indelebilis [zu] spüren“.[1] Meinecke führte damit die Tradition fort, den Deutschen und ihrem Charakter eine besondere Disposition zur Kultur zuzusprechen, die auch im Angesicht der politischen, militärischen und moralischen Katastrophe zur kulturellen Selbstversicherung und mentalen Stärkung beitragen konnte. Spätestens seit den Einigungsbestrebungen des frühen 19. Jahrhunderts verstanden sich die Deutschen als Kulturnation, durch die Antithese von „Kultur“ und „Zivilisation“ wurde Kultur später als etwas originär Deutsches betrachtet.[2] Dieses Deutungsmuster scheint, wie das Meinecke-Zitat nahelegt, in Zeiten des Umbruchs besonders wirkmächtig gewesen zu sein.
Genau hier setze ich mit meinem Dissertationsvorhaben an: Ich untersuche, wie in unmittelbaren Situationen des politischen Umbruchs vor dem Hintergrund tagesaktueller Ereignisse tatsächlich mit bürgerlicher Hochkultur umgegangen wurde. Welche Unterschiede und Konstanten sind dabei bei den verschiedenen politischen Umbrüchen in Deutschland, in offenen und geschlossenen Gesellschaften, auszumachen? Welcher längerfristige Wandel lässt sich dabei im öffentlichen Umgang mit Kultur feststellen? Um im weiten Feld des schillernden und uneindeutigen Kulturbegriffs[3] eine Zugriffsmöglichkeit zu bekommen, konzentriere ich mich dabei auf den Umgang mit den deutschen Klassikern, die ich als Arbeitsgrundlage als eine Art pars pro toto für „Deutsche Kultur“ verstehe. Der Umgang mit den Klassikern wird in drei Umbruchssituationen (1918, 1933 und 1945) untersucht. Politische Umbrüche, also Situationen der radikalen Veränderungen, sind immer durch eine spezifische Ambivalenz von Beharrung und Bewegung gekennzeichnet. Trotz revolutionärer Emphase kam es in Deutschland jedes Mal zu deutlichen Rückbezügen auf vorangegangene Abschnitte der deutschen Geschichte, aber ebenso auf die deutsche Kultur. So bleiben die Klassiker im Umbruch eine stabilisierende Konstante, auf die sich Politik und Gesellschaft beziehen konnten und die von politischer Seite zur Legitimierung der neuen Politik herangezogen wurde. Gleichzeitig verdeutlicht die Umbruchsituation Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Rezeption, da der Umgang mit den Klassikern in der neuen Situation neu verhandelt werden musste: Welche Aspekte des Klassikers wurden weiterhin akzeptiert, welche wurden neu bewertet, welche verschwanden möglicherweise aus der Rezeption, welcher Aspekt wurde als adäquater Ausdruck des Umbruchs gewertet und wie versuchten unterschiedliche Interessengruppen den Diskurs über die Klassiker für politische Zwecke zu verwenden?
Bürgerliche Hochkultur stellt ein eher selten von Historikern aufgegriffenes Forschungsgebiet dar.[4] Die Untersuchung des Umgangs mit ihr ist aber auch unter politisch-historischen Gesichtspunkten durchaus sinnvoll. Trotz der Bedeutung, die der Kultur von Seiten der Politik beigemessen wird, blieb Kulturpolitik, bis heute, Sache von Laien und Liebhabern. Anders als Mediziner, Juristen oder Ökonomen qualifizieren sich Kulturexperten und Kulturpolitiker nicht so sehr über ein Examen und dessen Benotung, sondern über Interesse und individuelle Spezialisierung. Dadurch ist das „weiche“ Gebiet der Kultur viel offener für unterschiedliche Deutungsangebote und Aneignungsversuche als andere Gebiete, etwa der Sozial- oder Wirtschaftspolitik. So wirkt der riesige Fundus „Kultur“ oft wie ein Selbstbedienungsladen, aus dem aktuell passende Themen ausgewählt und politisch aufbereitet werden können. Auf der Ebene der Politik dient „Kultur“ zudem, da ihr unmittelbarer Nutzwert deutlich abstrakter als in anderen Politikbereichen ist, Akteuren als ein Distinktionsmerkmal. Durch die Beschäftigung mit Kultur, der Partizipation an kulturellen Ereignissen und die entsprechende Aufarbeitung im Medienverbund, weisen sie sich gegenüber der Bevölkerung als gebildete Experten und Kenner aus. Gerade diese nicht durch fundierte Kompetenzen eingeschränkte Offenheit für politisch motivierte Deutungsmuster in Kombination mit der deutschen Tradition, Kultur in hohem Maße staatlicherseits zu finanzieren und zu verwalten, macht das Gebiet der Kultur nach einem politischen Umbruch anfällig für rasche, politisch motivierte Veränderungen. Somit können sich im staatlich geförderten Kulturbereich politische Veränderungen schneller manifestieren als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Darüber hinaus zeigt etwa die langjährige Debatte, ob das Grundgesetz der Bundesrepublik um das Staatsziel Kultur erweitert werden soll, dass das Spannungsfeld von Kultur und Politik auch aktuell existent ist. Am Ende der Untersuchung können damit Erkenntnisse stehen, die auch Rückschlüsse auf aktuelle Probleme der Kulturpolitik zulassen.
[1] FRIEDRICH MEINECKE: Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 41949, S. 175f.
[2] Vgl.: GEORG BOLLENBECK: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a.M. –Leipzig, 21994, S. 270 und JÖRG FISCH: Zivilisation, Kultur, in: OTTO BRUNNER – WERNER CONZE – REINHART KOSELLECK (HG.): Geschichtliche Grundbegriffe (Band 7), Stuttgart 1992, S. 679–774. Zur Antithese „Kultur-Zivilisation“ ab 1914 besonders S. 760–766.
[3] Dazu: THOMAS MERGEL: Kulturgeschichte - die neue „große Erzählung“? Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptualisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft. In: WOLFGANG HARDTWIG - HANS-ULRICH WEHLER (HG.): Kulturgeschichte heute. Göttingen 1996 (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft 16), S. 41-77 und DERS.: Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: Geschichte und Gesellschaft 4/2002, S. 575- 606.
[4] Vgl.: PETER GAY: Was ist Kultur?; in: WOLFGANG HARDTWIG – HARM-HINRICH BRANDT (Hg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 45–54; besonders S. 46f.