Viele Forschungseinrichtungen und wissenschaftliche Institute haben in den vergangenen Wochen Blogs zur Coronakrise aufgesetzt. Darin verfassen und veröffentlichen Angehörige dieser Institutionen ihre Gedanken zur gegenwärtigen Situation aus unterschiedlichen Perspektiven. Zuletzt hatten wir einen interessanten Beitrag des Literaturwissenschaftlers Prof. Dr. Uwe Steiner auf dem Blog der Fernuniversität Hagen gefunden und ihn daraufhin um ein Interview zur sogenannten Seuchenliteratur gebeten. Nun ist uns auf dem Blog des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI) der Artikel des Historikers PD Dr. Tim Schanetzky von der Universität Jena, derzeit Fellow am KWI, aufgefallen. Darin diskutiert er Zahlen und Expertentum rund um Corona. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"In jedem Stadium der Pandemie gibt es besser und schlechter geeignete Indikatoren"
L.I.S.A.: Herr Dr. Schanetzky, Sie leiten das Jenaer Forschungsprojekt „Politische Bildung. Ideen und Praktiken der Demokratisierung nach 1945" und sind zurzeit Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen. Im Blog des KWI haben Sie sich zuletzt zum Umgang mit Zahlen und anderen zentralen Argumentationsfiguren im Zusammenhang mit der Coronakrise geäußert. Fangen wir doch zunächst mit einigen zentralen Begriffen und deren Halbwertszeit an: „flatten the curve“, Verdopplung, Reproduktion. Jeder dieser Begriffe hatte seine Konjunktur, verschwand dann aber irgendwann wieder, um vom nächsten abgelöst zu werden. Haben wir es bei diesen Begriffskonjunkturen mit einer gewissen Willkürlichkeit zu tun oder eher mit einem Fall, bei dem Sprache die verschiedenen Stadien der Seuche bzw. die Wirklichkeit abbildet?
PD Dr. Schanetzky: Nein, willkürlich sind diese Konjunkturen nicht. Die Verdopplungszeit verliert in dem Moment an Aussagekraft, wo die Zunahme der Neuerkrankungen nicht mehr exponentiell verläuft. Heute wissen wir: In jedem Stadium der Pandemie gibt es besser und schlechter geeignete Indikatoren. Nur ist dieses Wissen eben erst das Ergebnis eines Lernprozesses. Man muss sich die Unsicherheit noch einmal in Erinnerung rufen: Anfang März hat die Politik eine Reihe von Entscheidungen getroffen, für die es in der Geschichte der westlichen Industriestaaten kein Beispiel gibt. Anlass dafür war keine akute Krise, sondern es ging um die Bewältigung künftiger und nur von Experten abschätzbarer Risiken. Vergleicht man das mit der Finanzkrise von 2008, gab es auch damals enorme Unsicherheit - aber alle Beteiligten hatten doch Vorstellungen davon, was der typische Verlauf einer Wirtschaftskrise ist, welche Begriffe sie beschreiben und wie man sie misst. Das alles fehlte zu Beginn der Corona-Krise.