Sehr geehrte Redaktion von L.I.S.A.,
mit großem Interesse habe ich den Artikel „Der Ursprung von Ritualen aus archäologischer Sicht“ von R. Dapschauskas (Veröffentlichung 30.04.2015) gelesen. In diesem widmet sich der Autor verschiedenen Themen, die mit dem Phänomen „Ritual“ verbunden sind. Hierbei wird insbesondere auf die Möglichkeit, rituelles Verhalten im archäologischen Befund nachzuweisen, aufmerksam gemacht. Einleitend werden Geschichte und aktueller Stand der Ritualforschung kurz zusammengefasst. Unter Hinweis auf die Tatsache, dass eine allgemeingültige Vorstellung davon, was unter einem Ritual zu verstehen ist, nicht existiert, werden Definitionskriterien aufgezählt, die bei der Identifikation eines Rituals helfen können. Im Anschluss wird die „Theorie der teuren Signale“ (zurückgehend auf den Biologen A. Zahavi) vorgestellt, die es ermöglicht, rituelles Verhalten evolutionsbiologisch zu deuten. Die zweite Hälfte des Artikels informiert über Bedingungen, die für den Nachweis eines Rituals im archäologischen Kontext erfüllt sein müssen und diskutiert dann die frühesten Belege beim Menschen bzw. Urmenschen. Hauptaussage des Autors ist hierbei, dass Rituale tief in der Anthropogenese verwurzelt sind und ihre Ursprünge der Speziation des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) deutlich vorausgehen. Ich möchte die Gelegenheit nutzen und zu einigen der genannten Punkte Stellung beziehen. Kurz muss ich mich dafür auch zu meiner Person und dem entsprechenden fachlichen Hintergrund äußern. Ich bin Doktorand am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und habe mich in meinem bisherigen Berufsleben primär mit Fundstellen aus dem Mittelpaläolithikum, also der Zeit des Neandertalers (Homo sapiens neanderthalensis) beschäftigt. Als Archäologe war es mir beim Lesen insbesondere eine große Freude über den disziplinären Tellerrand zu blicken und menschliche Verhaltensweisen aus Sicht der Evolutionsbiologie präsentiert zu bekommen. Hierbei hat mich die „Theorie der teuren Signale“ zum Nachdenken angeregt, deren Prinzipien ich seither in vielen verschiedenen Bereichen des
Lebens wiederzufinden glaube. Dies hat mir auch geholfen, eine Idee von der Bedeutung ritueller Handlungen für die Stabilität der menschlichen Gesellschaft zu bekommen. Den im Artikel formulierten Thesen zum Ursprung entsprechender Verhaltensweisen ist ebenfalls grundsätzlich zuzustimmen. So ist z.B. die Nutzung von Ocker, vermutlich zur Bemalung von Körper und, neuen noch umstrittenen Datierungen zu Folge, Wänden (Fundstelle: La Pasiega), auch für das Mittelpaläolithikum gut belegt (vgl. z.B. Roebroeks et al. 2012 oder Zilhão 2012). Ein deutlicher Hinweis auf die Nutzung von Symbolen und möglicherweise zugrundeliegenden Ritualen. Auch andere, vermeintlich jungpaläolithische (also mit dem anatomisch modernen Menschen assoziierte), Innovationen, wie das Tragen von Schmuck, z.B. die im Artikel genannten Adlerfedern, sollten dem Neandertaler zugestanden werden (Finlayson et al. 2012). In Summe führen diese Erkenntnisse dazu, dass die noch vor wenigen Jahren so scharf gezogene Trennlinie zwischen beiden Spezies immer weiter verschwimmt. Inwiefern Gründe für das Aussterben der einen und das Überleben der anderen Menschenform tatsächlich im kognitiven Bereich zu suchen sind, erscheint seither fraglich.
Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Datenlage bzgl. der mittelpaläolithischen Bestattungen nicht so eindeutig ist, wie es der Artikel stellenweise suggeriert. Deutlich möchte ich an dieser Stelle betonen, dass ich die Möglichkeit, dass Neandertaler ihre Toten rituell bestatteten und auch eine gewisse Vorstellung vom Jenseits hatten, nicht grundsätzlich in Frage stelle; im Gegenteil ich halte dies für sehr gut möglich. Meine Kritik bezieht sich hierbei lediglich auf die pauschale Gleichsetzung von Bestattung und Ritual. Die Diskussion, ob Neandertaler, zumindest in bestimmten Phasen ihrer Existenz, Bestattungen durchführten, darf zwar als weitgehend abgeschlossen gelten (nur noch vereinzelt werden grundsätzliche Zweifel an entsprechenden Befunden geäußert (z.B. Gargett 1999)), die Intention, die diesen Bestattungen zu Grunde lag, ist hingegen stark umstritten (vgl. z.B. Dibble et al. 2015, 655). So werden neben der rituellen Interpretation des Phänomens, auch utilitaristische, eher funktionale Zielsetzungen, wie die bloße „Deponierung“ eines Körpers, diskutiert (z.B. Chase & Dibble 1987, 271-276 oder Nielson et al. 2020). Es wäre z.B. denkbar, dass dies dem Schutz des Verstorbenen vor Aasfressern gedient hat. Eine Bestattung würde in diesem Fall zwar Wertschätzung und Mitgefühl zum Ausdruck bringen, aber nicht unbedingt rituelle Elemente beinhalten (vgl. Chase & Dibble 1987, 271-276). Der isolierte Befund einer Bestattung ist demnach nicht ausreichend, um ein Ritual zu rekonstruieren; dies ist, solange nicht Weiteres dafür spricht, nur eine von vielen möglichen Interpretationen. Eine Komponente, die Bestattungen als Teil eines übergeordneten Rituals ausweisen würde, wäre die Zurschaustellung von Emotionen wie z.B. Trauer über gemeinsamen Gesang und/oder Tanz,
jedoch hinterlässt dies keine Spuren im archäologischen Befund. Eine andere Möglichkeit wäre der Nachweis von Grabbeigaben. Solche erfüllen definitiv keinen Zweck im herkömmlichen Sinn, ihr Vorhandensein wäre somit nur symbolisch zu erklären. Aufgrund der Tatsache, dass es sogar einen temporären Nachteil bedeuten würde, einem toten Gruppenmitglied Gegenstände mit ins Grab zu geben („Materialverlust“), könnte ein solches Verhalten, zumindest in Zügen, auch mit Hilfe der bereits erwähnten „Theorie der teuren Signale“ und dem zugrundeliegenden „Handicap-Prinzip“ gedeutet werden. Allgemein akzeptierte Grabbeigaben fehlen aus der Zeit des Neandertalers jedoch gänzlich (Pettitt 2002). Fälle in denen dies diskutiert wird, beinhalten z.B. die Höhle von Shanidar (im heutigen Irak) und die sog. „Blumenbestattung“ oder die Höhle von Dederiyeh (im heutigen Syrien). Für Erstere konnten weitere Untersuchungen nahelegen, dass die im Umfeld der Bestattung dokumentierten Blumenpollen vermutlich nachträglich durch Tiergänge in die Grube gelangten (Sommer 1999). Eines der Gräber von Dederiyeh enthielt neben den Überresten eines Neandertaler-Individuums zwar zahlreiche weitere Funde, jedoch befanden sich darunter Produktionsabfälle, die bei der Herstellung von Steinartefakten angefallen waren (Pettitt 2002). Diese Funde lassen sich somit nicht ohne Weiteres vom restlichen Inventar abgrenzen und könnten auch zufällig beim Verfüllen der Grube oder durch eine natürliche Störung der Struktur hineingelangt sein (ebd.). Auch ein klar abgegrenzter „Platz der Toten“, wie es im Artikel genannt wird, kann zumeist nicht nachgewiesen werden. Die Mehrzahl der uns bekannten Bestattungen aus Neandertaler-Kontexten befinden sich inmitten des einstigen Lagerplatzes. Ein erwähnenswertes Beispiel, das z.T. bis heute als regelrechter „Neandertalerfriedhof“ mit verschiedenen Gruben und Abdeckungen diskutiert wird, ist die Fundstelle La Ferrassie in der Dordogne (vgl. z.B. Balzeau et al. 2020). Diese wurde jedoch zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgegraben (Peyrony 1934) und die zur Anwendung gelangten Dokumentationsmethoden sind aus heutiger Sicht nicht ausreichend. Die Interpretation der Befunde bleibt daher fraglich. Fälle von postmortaler Manipulation eines menschlichen Körpers sind aus dem gesamten Paläolithikum bekannt. Wie auch im Artikel angeführt, kann dies jedoch das Ergebnis von Kannibalismus (habituell bzw. rituell) oder aber anderer uns nicht mehr verständlicher Praktiken sein; je nach Fundstelle und Individuum konnte mal Ersteres (Rougier et al. 2016) mal Letzteres (Orschiedt 2008) plausibler gemacht werden. Ganz unabhängig davon, dass als wahrscheinlich betrachtet werden kann, dass zumindest z.T. rituelle Handlungen hinter den Bestattungen des Mittelpaläolithikums stecken, kann am Ende keines der im Artikel genannten Kriterien zur Identifikation eines Rituals auf diese zweifelsfrei angewendet werden. Im Übrigen treten komplexe rituelle Bestattungen auch nicht unmittelbar nach Ankunft des anatomisch modernen Menschen auf. Die Situation ändert sich im
Wesentlichen erst mit dem Gravettien (etwa 34.000 cal. BP bis 25.000 cal. BP), das auch als „Goldenes Zeitalter“ der eiszeitlichen Jäger- und Sammler bezeichnet wird (vgl. Riel-Salvatore & Gravel-Miguel 2013 sowie Roebroeks et al. 2000).
Zusammenfassend möchte ich festhalten, dass ich den Artikel von R. Dapschauskas für sehr informativ und gelungen halte. Der Autor schafft es, das komplexe Thema „Ritual“ und dessen Nachweis im archäologischen Befund in einem kompakten und leicht verständlichen Artikel zusammenzufassen. Dieser hat, so vermute ich, nicht nur mich, sondern zahlreiche andere Leser zu eigenen Recherchen und zum Nachdenken angeregt. Gelegentlich, hauptsächlich bei der Thematisierung paläolithischer Bestattungen, hätte ich mir eine differenziertere Darstellung gewünscht, die auch andere Interpretationsmöglichkeiten kurz beleuchtet und Einblick in eine aktuell noch laufende Debatte gewährt. Abschließend bleibt mir nur, mich für die anregende Lektüre herzlich zu bedanken.
Mit freundlichen Grüßen aus Erlangen
Merlin Hattermann
Literaturhinweise:
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