Frauen hatten es im christlich geprägten Mittelalter nicht leicht sich religiös zu betätigen, propagierte doch die Kirche ein Frauenbild, das sich an der Erbsünde Evas orientierte und Frauen dadurch abwertete. Der Eintritt in ein Nonnenklöster war eine Option, der patriarchalen Gesellschaft zu entkommen, die allerdings lange nur Frauen aus dem Adel wählen konnten. Als im Hochmittelalter zusätzliche Formen des religiösen Lebens entstanden, eröffneten sich auch für nicht-adelige Frauen neue religiöse Betätigungsfelder - so unter anderem in der neu aufkommenden Beginen-Bewegung, die anders als das Nonnenwesen sich nicht von der Welt abwandt, sondern sich inmitten des urbanen Lebens in Europa verankerte. Wer waren diese Beginen? Was zeichnete sie aus? Wie verbreiteten sie sich in Europa? Und was ist von ihnen heute noch geblieben? Mit diesen Fragen hat sich Paul Marchal beschäftigt und dazu geforscht. Wir haben ihm unsere gestellt.
"Das Beginenthema ist sowohl in kirchlicher wie in gesellschaftlicher Hinsicht konfliktbeladen"
L.I.S.A.: Herr Marchal, Sie haben ein Buch über eine bestimmte Gruppe von religiösen Frauen, die Beginen, geschrieben, das sowohl zeitlich als auch räumlich einen weiten Bogen spannt: von den Anfängen im Hochmittelalter bis zur Gegenwart, vom Rheinland und Benelux bis nach Frankreich, die Schweiz und Österreich. Woher rührt Ihr Interesse für die Beginen? Und woher stammt die Bezeichnung "Beginen"? Kann man das etymologisch erklären?
Marchal: Das Beginenwesen ist ein multidisziplinäres Thema. Beginen lebten im Gegensatz zu Nonnen nicht neben sondern in der Gesellschaft. Sie waren Religiosen, die (meistens) im städtischen Kontext anzutreffen waren. Wer sich mit dem Thema der Beginen auseinandersetzt, erfährt folglich eine Menge über Kirche, Klosterorden, Stadtstrukturen, kulturelles und wirtschaftliches Leben - um nur einige Aspekte zu nennen. Und vergessen wir nicht den Gegensatz Männerwelt-Frauenwelt. Das Beginenthema ist konfliktbeladen - sowohl in kirchlicher wie in gesellschaftlicher Hinsicht. Das alles macht es für mich besonders spannend.
Über die Etymologie des Wortes „Begine“ sind sich die Historiker immer noch nicht einig, obwohl zu dieser Frage schon viel Tinte geflossen ist. Einer der frühesten Augenzeugen der aufkommenden Beginenbewegung war kurz nach 1200 Jacob von Vitry, der eine Gruppe von religiösen Frauen im belgischen Oignies betreute. 1216 sollte er in Rom zum Bischof von Akkon geweiht worden, weshalb er eine lange Reise quer durch Europa unternehmen musste. Unterwegs traf er immer wieder auf Frauengemeinschaften, die mit seinen Schutzbefohlenen in Oignies vergleichbar waren, jedoch regional unterschiedlich bezeichnet wurden. Häufig waren diese Bezeichnungen negativ besetzt: etwa „papelarde“ (falsche Priesterin) in Frankreich, coquennunne (falsche Nonne) in Nord-Deutschland, bizocca (Sektenmitglied) in Italien. Diese religiösen Frauen wurden aber auch durchaus positiv wahrgenommen; zum Beispiel in der Lombardei und Spanien, wo sie als „humiliata“ (Demütige) oder „beata“ (Selige) bezeichnet wurden.
Die zwiespältige Haltung von Kirche und Gesellschaft hat diese Frauen während ihrer gesamten Geschichte begleitet. Wieso sich am Ende das Wort „Begine“ durchgesetzt hat, bleibt vorerst ungeklärt. Sprachwissenschaftler meinen, dass der Stamm „begg-„ auf ein undeutliches Sprechen hindeutet. Die Frauen sollen beim Beten gemurmelt haben, was als ein ketzerisches Benehmen eingestuft wurde. Auf jeden Fall sind sich die Historiker darüber einig, dass das Wort „Begine“ ursprünglich ein Schimpfwort war, das seine negative Konnotation verloren hat, als die Beginen sich in Kirche und Gesellschaft einzubürgern wussten. Der Vollständigkeit halber weise ich noch darauf hin, dass das Wort Begine in der Schweiz kaum verwendet worden ist. Hier ist vielmehr die Rede von Armen Schwestern, Seelschwestern, Waldschwestern, Feldnonnen. Letztere Bezeichnungen weisen übrigens darauf hin, dass das Beginentum in der Schweiz sich auch außerhalb des städtischen Kontextes verbreitet hat. Die Bezeichnung „Begine“ hat sich dort allerdings nicht durchgesetzt.
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Herr Marchal war bei uns auf dem Beginenhof Bochum zu Gast. Wir hoffen, ihn 2021 besuchen zu können.
Die Verbindung der modernen Beginenbewegung mit der Geschichte der Beginen ist die der Tochter zu ihrer Mutter (ist was dran, in jeglicher Hinsicht).