Dieser Beitrag hätte auch die Überschrift "The Spirit(s) of Academia" haben können. Denn in diesem Interview geht es um beides: Um Spirituosen einerseits, um den akademischen Geist andererseits. Der Historiker Prof. Dr. Philipp Stelzel kennt sich mit beidem aus. Als deutscher Wissenschaftler forscht und lehrt er an der Duquesne University in Pittsburgh zu Themen transnationaler und globaler Geschichte. Im Zuge und für die Dauer der Coronakrise erschloss er sich aber eine zusätzliche Expertise, die in der US-amerikanischen akademischen Welt nicht ungewöhnlich ist. Zu dieser sowie zu seinen in der Coronazeit entstandenen Cocktail-Rezepten haben wir Professor Stelzel unsere Fragen gestellt.
"Am Ende des Semesters hatte ich ein Repertoire von 30 Cocktails"
L.I.S.A.: Herr Professor Stelzel, Sie haben ein für Wissenschaftler eher ungewöhnliches kleines Buch veröffentlicht. Es nennt sich „The Faculty Lounge“. Dass es dabei um Wissenschaft geht, lässt zumindest der Untertitel vermuten: „A Cocktail Guide for Academics“. Blättert man durch das Buch, findet man aber eine Fülle von Rezepten für Cocktails mit außergewöhnlichen, sogar mit sprechenden Namen wie zum Beispiel „The Forty-Minute Conference Paper“ oder „The Dissertation Committee“. Dazu später mehr, denn es drängt sich zunächst die Frage auf: Wie kommt ein Historiker auf die Idee, ein Cocktail-Kompendium zu schreiben? Was hat Sie inspiriert? Mit welchem Spirit geht man so etwas an? Hat das etwas mit dem The Social Distancer oder dem The Quarantini oder mit dem The Cogito Ergo Zoom zu tun?
Prof. Stelzel: „The Faculty Lounge“ ist kein klassisches Cocktailbuch, sondern eine satirische Annäherung an Academia, der Cocktails als Vehikel dienen. Seine Ursprünge liegen in den frühen Wochen der Covid-Pandemie und der Online-Lehre Mitte März 2020. Eines Nachmittags, ich hatte gerade meine Vorlesungen für den nächsten Unterrichtstag aufgenommen und auf den Kurs-Websites hochgeladen, bekam ich Lust auf einen Cocktail. Normalerweise sind der Rye Manhattan und der Gin Martini meine Favoriten, aber an diesem Tag wollte ich etwas Neues ausprobieren. Ich hatte Bourbon, Cranberry-Saft (die säuerliche Variante) und Grenadine zuhause. Diese Zutaten verrührte ich in einem Mixing Glass über Eis und servierte den Cocktail dann „up“ (also ohne Eis) in einem coupe Glas mit einem Orange Twist. Nun brauchte ich nur noch einen Namen, und angesichts der Umstände fiel mir The Social Distancer ein. Mit dem Resultat war ich geschmacklich recht zufrieden, und ein Photo des Cocktails amüsierte einige Freunde und Kollegen auf Facebook. Daher beschloss ich am nächsten Tag, ein weiteres Rezept zu kreieren. Online war ich auf einen Photo-Post gestoßen, in dem der Autor seinen Gin Martini als Quarantini bezeichnete. Inspiriert davon, mixte ich meinen eigenen Quarantini, indem ich einem Gin Martini einen Schuss Absinth zufügte. Warum? „Because I had it by myself, while everyone else was absinthe..“
Auf den Geschmack gekommen, behielt ich diese neue „Tradition“ den Rest des Semesters bei. Jeden Werktag zwischen 17 und 18 Uhr dachte ich mir ein Rezept aus und gab ihm einen Namen, der mit der Thematik „Welche Herausforderungen stellt die Pandemie für den College-Professor dar?“ zusammenhingen. So gab es zum Beispiel bald The Canceled Conference, The Inaccessible Archive, The Remote Instructor, The Self-Isolation Productivity Angst und natürlich The Cogito Ergo Zoom.
Am Ende des Frühjahrssemesters im Mai hatte ich ein Repertoire von ca. 30 Cocktails. Das Teilen der Rezepte in den sozialen Medien war auch ein willkommener Weg, mit Freunden und Freundinnen und Kolleginnen und Kollegen zu einer Zeit der sozialen Isolation in Kontakt zu bleiben. Dass daraus ein Buch entstehen könnte, hätte ich jedoch nicht gedacht.
Einige Monate später, kurz vor Beginn des Herbstsemesters Ende August, postete ich einen Thread mit meinen 25 Lieblingsrezepten auf Twitter. Da uns an der Universität nun ein weiteres pandemisches Semester bevorstand, kämen ein paar dazu passende Cocktailrezepte vielleicht ganz gelegen. Zu meiner großen Überraschung löste dieser Thread ein großes Echo aus und wurde einige Tausend Male geteilt. Etwas zwei Wochen später bekam ich eine E-Mail von einer Lektorin von Indiana University Press, die meinen Thread gesehen hatte und nun anfragte, ob ich an einem Gespräch über ein Cocktailbuch-Projekt interessiert sei.
Wir waren uns dann sofort einig, dass dieses Buch das akademische Leben insgesamt persiflieren sollte, so dass die Kapitel nun jeweils unterschiedliche Aspekte desselben behandeln. Und zu jedem Cocktail gibt es eine „tasting note“ bzw. Gebrauchsanweisung. Bei The Presidential Platitude, einem von den oft zu hörenden, hohlen Phrasen der Universitätsleitungen inspirierten Gin-Cocktail, heißt es z.B.: „Enjoy, and please know how much I appreciate your willingness to go that extra mile on behalf of our university family during these trying times.”