Im vergangenen Jahr wurde das 175jährige Jubiläum der Fotografie begangen. Tatsächlich aber ist die Geburtsstunde der Fotografie alles andere als eindeutig. Bis heute streiten sich die Experten, ob es den Erfinder oder die Erfindung der Fototechnik überhaupt gibt. Die Kunst- und Wissenschaftshistorikern Dr. Mirjam Brusius der University of Oxford forscht seit Jahren zu einem der Fotopioniere des 19. Jahrhunderts: William Henry Fox Talbot. Wir haben ihr unsere Fragen zur Geschichte der Fotografie sowie zu ihrem heutigen Stellenwert angesichts der digitalen Herausforderung gestellt.
"Das Jubiläum der Fotografie in Tandem mit anderen Jubiläen reflektieren"
L.I.S.A.: Frau Dr. Brusius, als Kunst- und Wissenschaftshistorikerin beschäftigen Sie sich wissenschaftlich mit der Geschichte der Fotografie. Das 175jährige Jubiläum liegt gerade hinter uns. Ist es überhaupt jemandem aufgefallen, bei der Flut an Jubiläen die es im Jahr 2014 gab? Was ist in Ihren Augen hängengeblieben?
Dr. Brusius: Ja, eine Zeitlang hatte ich tatsächlich den Eindruck, das Jubiläum würde unter der Berliner Mauer begraben oder im Kanonenhagel des ersten Weltkriegs untergehen. Es gab jedoch einige beeindruckende Ausstellungen, die zum Beispiel zeigten, dass das Medium gerade in solchen Konfliktzeiten nie an Sprengkraft verloren hat. Historische Ereignisse wurden häufig durch die Fotografie erst ikonisch definiert und schrieben sich so erst in das kollektive Gedächtnis ein. Im Jubiläumsjahr waren Roger Fentons Kriegsfotografien aus den 1850er Jahren gleichzeitig mit Simon Norfolks fotografischen Dokumente aus dem Afghanistankrieg von 2001 in London zu sehen. Beide Fotografen bedienten sich trotz der großen Zeitspanne einer ähnlichen Ästhetik der Leere. Und so wie Krieg und Fotografie nie auseinander zu denken sind, war es für mich persönlich interessant, das Jubiläum der Fotografie in Tandem mit anderen Jubiläen zu reflektieren: Denn während es sich bei beim Gedenken um den Beginn des Ersten Weltkriegs oder zum Mauerfall um konkrete und zeitlich definierbare historische Ereignisse handelt, wurde es bei “10 Jahre” Facebook (das angeblich 2004 erfunden wurde) schon schwieriger. Wie lassen sich wissenschaftliche Erfindungen, die vor allem auf Kontexten und Prozessen beruhen, überhaupt historisch auf einen Beginn festlegen? Mit der Fotografie ist das nicht anders. Fotohistoriker haben bereits vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass es bereits vor 1839 Experimente gegeben hatte und die Fotografie vor 175 Jahren lediglich öffentlich bekannt gemacht wurde.
Aber zurück zu Ihrer Frage: Mehr als die Ausstellungen und neuen Publikationen, die um das Jahr 1839 kreisen haben mich daher vor allem einige wenige Publikationen beeindruckt, die sich um das Erfindungsjahr wenig geschert haben und stattdessen gefragt haben: Warum gibt es weiterhin diese Flut an neuen Publikationen, die die Stunde Null immer wieder auf 1839 setzen? Warum immer diese Artikel über angebliche Neuentdeckungen von noch früheren “ersten Fotografien”? Warum ist es denn überhaupt so wichtig, die Erfindung der Fotografie festgelegen? Wenige KunsthistorikerInnen würden die Suche nach den Ursprüngen der Skulptur oder Malerei so obsessiv und beharrlich betreiben. Die Antworten hierauf sind komplex und haben viel mit der Geschichte des Faches Kunstgeschichte zu tun, in der sich die Fotografie zunächst immer wieder behaupten musste. Weitere hilfreiche Antworten hierauf liefert die Wissenschaftsgeschichte, die etwa nach den sozialen und technischen Konditionen von Erfindung und Erfinder fragt. Erfindungen sind retrospektiv „erfundene“ Konstrukte. Das Jahr 1839 ist da keine Ausnahme.