Nachts Befehl, dass wir Morgens nach Saalau, 3 km zurückgehen und dort auf mehrere Tage Quartier beziehen sollen. Die Verfolgung ist aufgegeben; wir haben umsonst gehungert. Gedrückte Stimmung beim Rückmarsch. Die Leute in Gr Laszeningken und in Saalau erzählen, die russischen Infanteristen seien auf dem Rückzuge vorgestern im Laufschritt durchgekommen, viele hätten sich an den Schwänzen der Kosakenpferde festgehalten; jeden Wagen, dem sie begegnet wären, hätten sie sofort angehalten und requiriert, damit er sie im gestreckten Galopp der Grenze zufahre. Um so wunderbarer erscheint es mir, dass sie Nichts fortgeworfen haben. – In Saalau ist man sehr enttäuscht, dass wir sie nicht abgefangen haben, weil man gehofft hatte, so die jungen Burschen wiederzubekommen, die sie entführt haben. – Mittags kam die amtliche Nachricht, dass doch 25 000 Russen gefangen genommen seien. Der Wachtmeister Winter, der beim Stabe war, bringt sogar die Nachricht, es seien 97 000. Gegen 6 heisst es plötzlich im Dorf, die 25 000 gefangenen Russen kämen durch. Alles läuft aus den Häusern und stellt sich an der Strasse auf, um sie zu sehen; vergebens. Etwas später kommt der Verpflegungs Offizier Ackers, dem ich sehr deutlich meine Meinung wegen gestern sage. Er sagt, er könne Nichts dafür, es sei strenger Befehl des Gen Komdos gewesen, dass Alles für die auf der Verfolgung befindlichen Truppen aufgespart werden müsse. Wir hätten, wenn die Verfolgung, wie geplant, bis Tilsit und weiter fortgesetzt worden wäre, verhungern müssen, da ja auch im Lande Nichts mehr zu haben ist. Es habe geheissen: „Wer liegen bleibt, bleibt liegen“. Übrigens sei nur das eine Korps, das wir verfolgten, entwischt; dreiviertel der russischen Armee sei von Hindenburg selbst von Süden aus umklammert; die Schlacht daure noch, man rechne aber bestimmt mit der Eroberung der gesamten russischen Artillerie und Bagagen und mit über 90 000 Gefangenen. – Spät klopft mein Wachtmeister an meine Tür und meldet mir, beim Stabe heisse es, es seien 130 000 Russen bereits gefangen. Die Stimmung, die heute Morgen gedrückt war, wird allmählich gut. – Es heisst jetzt, wir würden in Tapiau verladen und wieder auf einen anderen Kriegsschauplatz geschafft werden; die Einen sagen nach Galizien, die Andern nach Holland, Andre wieder an die Nordsee. Jedenfalls ist unser ostpreussischer Feldzug zu Ende, er hat für uns nur acht Tage gedauert.
13. Sept. 1914. Sonntag. Saalau. Ostpr.
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Ray Mentzer (atominfo@aol.com); photographer unknown (WikimediaCommons)