Früh um 5 aus dem Biwak geholt, mit „Sofort abrücken“. Wir verfolgen die Russen, die auf die Grenze zu fliehen sollen. Es besteht die Hoffnung, sie abzuschneiden und ins Haff zu werfen. Auf der Chaussee kommt uns ein Trupp russischer Gefangener, Infanteristen, schmutzig und finster aussehende Kerle, entgegen, die in den Wäldern zusammengelesen sind. Etwas weiter liegt einer zusammengekrümmt auf dem Bauch im Chausseegraben; der Unteroffizier sagt, er habe Cholera und könne nicht weiter. Unsere Leute drohen den Russen beim Vorbeimarsch mit der Faust. Die Verwüstung von Allenburg und andren Orten hat sie gegen die Russen erbittert. In den Dörfern erzählt man uns, die Russen hätten die jungen Leute mit sich fortgeführt, wahrscheinlich zum Schanzen Graben. Fast jedes Dorf klagt über mehrere so Entführte. Dies steigert die Wut unserer Leute. Der Marsch geht den ganzen Tag durch, über Hollenderei, Norkitten auf Insterburg zu. Nachmittags fängt es an zu regnen. Das Tempo wird immer schneller; nach Sonnenuntergang wird es auf durchgeweichten Wegen zu einer wilden Hetze; Pferde stürzen, man scheucht sie auf – oder lässt sie liegen; es geht weiter. Im Dunklen halten wir dann plötzlich auf der Dorfstrasse in Gr Laszeningken. Wir warten. Befehle kommen nicht. Ich lasse mir, da ich den ganzen Tag Nichts gegessen habe, aus einem Hause ein paar Bratkartoffeln und Speck reichen. Ein Fussartillerist, der zurückreitet, ruft mir gegen 10 Uhr Abends zu, die Russen seien über die Grenze entwischt, die Verfolgung werde nicht fortgesetzt. Ein Offizier bestätigt dies etwas später. Enttäuscht suchen wir Nachts um 11 im Dorf Stallung und Quartier. – Wir ritten den ganzen Tag auf der Rückzugslinie der Russen vorwärts; trotzdem gab es kein Zeichen unordentlicher Flucht, wie fortgeworfene Tornister, Pferdekadaver, umgestürzte Wagen; ich sah nur ein einziges russisches Montierungsstück, eine Kosakenhose. In Belgien sahen die Schlachtfelder ganz anders aus. Die Manneszucht muss im russischen Heer recht stramm sein. Auch haben sie nur wenig verbrannt, allerdings viel geplündert. – Meine Leute haben seit gestern um 3 Nichts zu essen bekommen; auch die Pferde keinen Hafer. Auf Befehl des General Kommandos dürfen die Lebensmittelkolonnen nur noch an die fechtenden Truppen in der Front abgeben; Alles muss für diese aufgespart werden, damit die Verfolgung des Feindes bis zum Äussersten fortgesetzt werden könne. Wir müssen auf höheren Befehl hungern.
12. IX 1914 Sonnabend. Gr. Laszeningken b/Insterburg
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
PD Polish, OND (WikimediaCommons)