L.I.S.A.: Die zwei zentralen Begriffe in Ihrem Projekt sind „Demokratie“ zum einen und „sozialer Konflikt“ zum anderen. Bleiben wir zunächst bei dem der Demokratie. Wie verstehen Sie Demokratie? Aus dem Buch von Dirk Jörke über die Größe der Demokratie erfährt man, dass Demokratie zwei Aufgaben habe: den Prozess der Partizipation herzustellen und für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. In einem aktuellen Buch von Philip Manow liest man, dass Demokratie immer mit dem Projekt der Einhegung des Pöbels verbunden war. Sind das Überlegungen, die in Ihrem Projekt auch eine Rolle spielen?
Prof. Jörke: In der Tat unterscheide ich in meinem Buch zwei zentrale Versprechen der Demokratie. Das erste Versprechen lässt sich als effektive politische Gleichheit bezeichnen. Dass also alle Bürger und später auch Bürgerinnen über die gleichen politischen Rechte verfügen und dass sie über entsprechende Verfahren auch tatsächlich etwas bewirken können. Letzter Punkt ist nicht trivial, denn eine Reaktion gerade liberaler Eliten bestand darin, bestimmte Politikinhalte dem demos zu entziehen. Dies geschieht etwa durch die Etablierung vermeintlich neutraler Zentralbanken oder durch die Festschreibung von Strukturentscheidungen in Verfassungstexten, nicht zuletzt mit Blick auf die Eigentumsordnung.
Das führt zum zweiten zentralen Versprechen der modernen Demokratie, dass sich nämlich über demokratische Verfahren die soziale Lage der unteren Klassen verändern lässt. Ganz in diesem Sinne hat etwa Otto von Bismarck mit Blick auf Forderungen nach einer Landverteilung vor den „Versprechungen der Demokratie“ gewarnt. Entsprechende demokratische Forderungen sind von liberalen Eliten dann auch immer wieder als „demagogisch“ oder schlichtweg aufrührerisch abgewertet worden. Es wurde mithin, und das hat Philip Manow nochmal sehr schön herausgearbeitet, ein „Pöbel“ konstruiert, über dessen Forderungen man meinte, hinweggehen zu können.
Doch hat diese Strategie einer „Abwertung“ der sogenannten Massen allein nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt. Wir gehen vielmehr davon aus, dass die „Abwertungsstrategie“ ergänzt wurde von zwei weiteren Strategietypen, die wir als „Umarmungsstrategie“ und „Institutionalisierungsstrategie“ bezeichnen. Unter „Umarmungsstrategie“ verstehen wir Versuche, die Forderungen „von unten“ aufzunehmen, in dem sie transformiert werden. Ganz entscheidend dabei ist die Erziehung zur Demokratie, mit Foucault könnte man auch sagen die Disziplinierung der „Massen“. Aber auch die Einführung sozialstaatlicher Maßnahmen kann zur Umarmungsstrategie gehören.
Als Institutionalisierungsstrategie bezeichnen wir demgegenüber Bestrebungen, durch entsprechende verfassungsrechtliche Regelungen und Verfahren soziale Forderungen ins Leere laufen zu lassen; also etwa die sich durch die Ausweitung des Wahlrechts ergebende Gefahr eines ernsthaften Eingriffs in die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse durch partielle Wahlrechtsbeschränkungen, indirekte Wahlen oder auch zweite Kammern abzuwehren. Am weitesten geht natürlich die Entpolitisierung der Eigentumsfrage durch entsprechende verfassungsrechtliche Regelungen. In jeweils spezifischen Institutionalisierungen konkretisieren sich zugleich die Strategien der Abwertung und der Umarmung. Alle drei Strategien lassen sich bei zentralen Autoren des liberalen Kanons, etwa John Stuart Mill oder auch Alexis de Tocqueville, finden. Wir wollen deren Gewichtung untersuchen und vielleicht auch herausfinden, inwieweit diese drei Strategien auch unser heutiges Demokratieverständnis und dessen Problematiken prägen. Deshalb auch der vergleichsweise lange Untersuchungszeitraum bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
PD Dr. Eberl: Philipp Manow hat da einen Punkt herausgearbeitet, der sehr nah an unseren Interessen ist. Es ist nun die Frage, ob das Projekt der Demokratie tatsächlich die Ausgrenzung bedeutet, so wie ja auch Frauen und Kolonisierte ausgeschlossen waren. Oder ob Demokratie nicht gerade das Argument ist, mit der diese Ausgrenzung kritisiert und aufgehoben werden kann. Es ist in der Demokratietheorie eine weit verbreitete Annahme, dass die Idee eines sich selbst Gesetze gebenden demos notwendig Ausschlüsse produziert. Man kann es aber auch genau andersherum sehen, dass eigentlich keine Idee so offen für Integration ist wie die Demokratie. Die Ausschlüsse werden dann durch andere Annahmen hervorgebracht: nationalistische, sexistische oder rassistische, aber eben auch soziale. In meinen Augen geht es (in) der Demokratie nicht per se um den Ausschluss des „Pöbels“. Vielmehr verfolgt eine eigentumsorientierte Form der Demokratie den Ausschluss der sozialen Forderungen, die von der „Masse“ vorgetragen werden.
Manow konzentriert sich stark auf die ästhetischen Formen dieser Forderungen, bzw. der Menschen, die diese Forderungen erheben. Der Ausschluss des „Pöbels“ ist aber doch vor allem wegen seiner sozialen Komponente interessant: Welche Forderungen werden hier mit welchen Argumenten von wem ausgeschlossen? Wenn es so ist, dass Trump seine Wahl 2016 (und fast auch seine Wiederwahl) vor allem weißen Männern ohne College Abschluss verdankt, dann deutet das auf einen sozialen Konflikt hin, der durch die alleinige Behandlung als Wertkonflikt verdeckt wird. Wir wollen also dazu beitragen, soziale Konflikte auch als Demokratiekonflikte zu verstehen: entweder werden Konflikte zu Demokratiekonflikten, weil soziale Forderungen als Forderungen bisher Ausgeschlossener nach Teilhabe erhoben werden oder sie werden es, weil soziale Forderungen mit dem Verweis auf die Unberechenbarkeit der Fordernden abgewehrt und ihre TrägerInnen aus der Demokratie (auch nachträglich) ausgeschlossen werden.
Dr. Salomon: Ich möchte gerne noch etwas zu den Umarmungsstrategien ergänzen. In sozialen Konflikten werden diejenigen, die Forderungen erheben, nicht einfach nur bekämpft, sondern teilweise werden Forderungen auch als „berechtigt“ etikettiert. Das ist ein Aspekt, der oft übersehen wird. Aus Sicht von sozialen Bewegungen sind solche Anerkennungserfolge immer ein zweischneidiges Schwert. Zum einen handelt es sich tatsächlich um Erfolge, zum anderen führen sie aber auch dazu, dass Bewegungen in gemäßigte und radikale Teile gespalten werden. Die Annahme ist, dass solche Spaltungen durchaus von oben gewollt sind.
Umarmungsstrategien können dabei eine ganz unterschiedliche Intensität haben. Ganz oberflächlich sind lobende Erwähnungen bei Sonntagsreden, rhetorische Floskeln oder Einladungen zu Fototerminen. Ernster wird es, wenn Teilforderungen tatsächlich übernommen oder sogar politisch umgesetzt werden. Eine historisch für unser Projekt zentrale Frage ist, wie Umverteilungsansprüche anerkannt werden und zugleich die Forderung nach veränderten Produktions- und Eigentumsverhältnissen umso schärfer zurückgewiesen wird. Umarmungsstrategien stehen somit nicht in einem Gegensatz zur Abwertung, sondern ziehen oft gerade die Grenze zwischen dem, was integriert und dem, was ausgeschlossen oder abgewertet werden soll. Das Widersprüchliche daran ist, dass sich gerade in unserem Untersuchungszeitraum über diesen Mechanismus reale Fortschritte der Sozialstaatlichkeit vermittelt haben, die in den Jahrzehnten danach teilweise wieder zurückgebaut wurden.
Die Frage, in welchem Verhältnis Demokratie und Sozialstaat zueinander stehen, insbesondere inwiefern Sozialstaatlichkeit notwendiger Bestandteil eines modernen Demokratieverständnisses ist, ist sicher eine ganz zentrale Streitfrage, seit die Forderungen nach einer sozialer Republik im frühen 19. Jahrhundert aufgekommen ist. Die soziale Frage wird in diesem Sinn im 19. und 20. Jahrhundert zunehmend zu einer der wichtigsten Fragen von Demokratietheorie. Genau dagegen richtet sich später die „neoliberale“ Theoriebildung bei Hayek und anderen.