Friedens- und Konfliktforschung beschäftigt sich mit der Analyse innengesellschaftlicher oder internationaler Konflikte und Möglichkeiten ihrer möglichst gewaltfreien Bearbeitung. Dabei rücken insbesondere auch solche Konflikte in den Vordergrund, die ein hohes Eskalationspotenzial besitzen oder mit Gewalt ausgetragen werden. Gewalt dient der Friedens- und Konfliktforschung somit in doppelter Hinsicht als eine Art Aufmerksamkeitsverstärker: Sie zeigt die Dringlichkeit des Problems an und sie fordert zur Suche nach Alternativen heraus. Das macht die Friedens‐ und Konfliktforschung zwar analytisch und normativ sensibel für jede Form kollektiver Gewalt. Zugleich aber bringen extreme Formen von Gewalt, wie wir sie zur Zeit auch, aber nicht ausschließlich im Nahen und Mittleren Osten erleben, die Friedens- und Konfliktforschung an ihre Grenze.
Im Vortrag wird diese Grenze und damit die Frage diskutiert, welchen Beitrag die Friedens- und Konfliktforschung – in Abgrenzung etwa zur Gewalt und zur Sicherheitsforschung – zum Verständnis und zur Erklärung von Fällen extremer Gewalt liefern kann und inwieweit die Suche nach Alternativen der Konfliktaustragung in diesem speziellen Kontext noch als sinnvoll erscheint.
Ringvorlesung "Gewalt im 21. Jahrhundert. Begriffe - Ordnungen - Verletzungen" (Universität Bochum; Wintersemester 2016/17)
Die Ringvorlesung unter Beteiligung von Forscherinnen und Forscher aus Universitäten des In‐ und Auslands geht aktuellen Fragen aus der Begegnung mit Gewaltpolitik nach. Dabei versuchen die Beteiligten die Fragen nicht zuletzt auch anders zu stellen.
Denn die zur Zeit dominierende Perspektive, zu versuchen, die Ursachen, den Verlauf und die (globalen) Risiken heutigen Gewaltgeschehens in eine Geschichte von Gewalt einzuschreiben, reicht zweifellos nicht aus, aktuelle Formen von Ausgrenzung, Vertreibung, Verfolgung und Morden zu erklären. Dies nicht, weil wir uns so schlecht entscheiden können, ob wir „die“ Gewalt nicht doch als grundsätzlich zugehörig zur menschlichen Natur oder zur menschlichen Gesellschaft betrachten sollten. Sondern weil es vielleicht gar nicht „die Gewalt“ ist,
die jeweils kontinuiert oder neu konstruiert wird. Welche Figurationen von Geschichte und Biographie, von Selbst und Zukunft zeigen sich dort, wo Kollektive fähig werden zu extremen Verfolgungen, Massaker, Völkermord?
Aus der Perspektive einer langjährigen Beschäftigung mit kollektiver Gewalt und Völkermord besteht die Herausforderung heute nicht darin, altbekannte Muster von Ausgrenzung, Diskriminierung oder Terror in den aktuellen Gewaltereignissen
zu suchen, sondern zunächst darin, sich der Tatsache zu stellen, dass an exakten historischen Orten heute neue Massengräber entstanden sind (Deir‐es Zor, Rakka, Mossul). Die Opfer dieser Morde verlangen eine eigene Geschichte – sie sind Opfer einer neuen Politik.
Von „Wiederholung“ zu sprechen, impliziert zudem immer auch die Integration des Vorgehenden in einer Aufhebung, einem Vergessen. Dass wir Strukturen als „bekannt“ erkennen können, erfordert nicht eine Einschreibung in eine zivilisatorische Geschichte von Gewalt, sondern eine Auseinandersetzung mit Wissensformen von Eigen und Fremd, mit modernen Ausschließungen, mit Ordnungen von Gesellschaft, Distanz, Achtung oder Zukunft. Es fordert auch dazu auf, zu erkennen, dass wir Gewaltereignisse stets aus der Perspektive der Täter verstehen möchten, doch die Perspektive der Opfer bis heute eher als „schwierig“, „subjektiv“, „moralisch“ oder „überwältigend“ erklärt haben, ohne zum Beispiel zu überlegen, welche Relevanz die Erfahrung des Überlebens von Verfolgung und Gewalt in und für Gesellschaften besitzt.
Ob unser heutiges Erschrecken über neue Kälte und Mitleidlosigkeit zeigt, dass man aus Geschichte nicht „lernen“ kann? Dass „wir“ unsere Lektion der Geschichte nicht gelernt haben? Vielleicht. Vielleicht war auch die Idee vermessen,
aus „Geschichte“ zu lernen. Vielleicht ist die Geschichte, die wir lernen sollten, auch nie wirklich so angenommen worden, dass wir verstanden hätten, dass wir Teil dieser Geschichte sind. Vielleicht haben wir „Geschichte“ auch zu sehr von dem getrennt, was nach wie vor kaum einen Raum hat: die Erfahrung, Täter zu werden, die Erfahrung, Opfer zu werden (und zu bleiben).
Und wie sollen wir neben der entfesselten Gewalt im Nahen und Mittleren Osten diskutieren, dass es nach wie vor Menschenhandel, Sklaverei, ausgrenzende Gewalt gegen Minderheiten, diskriminierende Gewalt gegen Frauen in vielen Teilen der Welt gibt und systematische Gewalt zur Stabilisierung von staatlichen Regimen dient? Möglicherweise nicht, indem wir Zuflucht suchen in einem enttäuschten Festhalten daran, dass uns Kultur vor Gewalt schützt. Im
Gegenteil: Kultur kann Ausschließungen bewahren, wo sie Differenzen in ihren Positionierungen sieht, jedoch nicht in ihrer Zugehörigkeit versteht. Die Frage nach der „Gewalt im 21. Jahrhundert“ dürfen wir nicht nur hinsichtlich dessen erörtern, ob die Gewalt zugenommen oder abgenommen hat, ob sie einem „noch“ oder einem „trotzdem“ antwortet. Kaum jemand hat deutlicher als Sigmund Freud in seiner Reflexion auf den Ersten Weltkrieg diese „Enttäuschung“ über die Brutalität des Krieges hinterfragt. Denn die Akzeptanz dessen, dass es das „Böse“ im Menschen nach wie vor gibt, kann uns beim Erkennen von Ursachen extremer Gewalt kaum nützen.
Erst die Frage danach, wo der Schutz des Anderen versagt, führt aus dem Erschrecken heraus. Sie konfrontiert uns damit, dass uns Gewalt als Mittel der Politik begegnet. Ob „noch“ oder „wieder“ ist dabei als Analysefrage möglicherweise zunächst gar nicht an die Gewalt selbst, sehr wohl aber an die Politik zu stellen.
Im Rahmen der Vorlesung sollen daher aus den Disziplinen der Geschichte,
Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft, Genderforschung oder Konfliktforschung kritische Fragen auch an das Selbstverständnis eines „21. Jahrhunderts“ gestellt werden, so an die Position des Wissenschaftlers angesichts heutiger Gewaltpolitik oder die Möglichkeit der Entwicklung globaler Menschen‐ und Minderheitenrechte.
Die Vorlesung wurde am Bochumer Institut für Diaspora- und Genozidforschung konzipiert und durchgeführt durch Prof. Dr. Mihran Dabag und Dr. Kristin Platt.