Die Fronten in der Ukraine sind nach wie vor derart verhärtet, dass eine Beendigung des Ukraine-Krieges immer noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Ähnlich unüberbrückbar scheinen derzeit auch die Positionen in Debatten über den Krieg zu sein - auf der einen Seite diejenigen, die einen Waffenstillstand fordern, um Verhandlungen einleiten zu können, auf der anderen jene, die Verhandlungen zum jetzigen Zeitpunkt für falsch halten und die Ukraine mit weiteren Waffen beliefern wollen. In einem kleinen Band haben sich nun Stimmen aus Wissenschaft, Politik und Militär zu Wort gemeldet, die Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg und für eine künftige europäische Friedensordnung ausloten. Darunter auch der Philosoph Prof. Dr. Albrecht von Müller von der Parmenides Stiftung, der über strukturelle Stabilität in Europa nachgedacht hat. Wir haben ihm dazu unsere Fragen gestellt.
"Nach neuartigen Lösungen suchen, denen beide Seiten zustimmen können"
L.I.S.A.: Herr Professor von Müller, gemeinsam mit anderen Autorinnen und Autoren haben Sie in einem kleinen Band publiziert, der sich mit Perspektiven nach dem Ukraine-Krieg gedanklich auseinandersetzt. Bevor wir zu einigen Details Ihres Beitrags kommen - was hat Sie und die anderen Autoren bewogen, an diesem Buch mitzuschreiben? Welche Überlegungen gingen dem voraus?
Prof. von Müller: Mein Eindruck ist, dass es derzeit keine Lösungen gibt, die auf der einen Seite die Ukraine und im engen Zusammenhang, aber nicht identisch damit, der Westen und auf der anderen Seite Putin akzeptieren können. Dies bedeutet, dass der momentan in Erwägung gezogene „Lösungsraum“ zu klein ist und man zuallererst einmal nach neuartigen Lösungen suchen sollte, denen beide Seiten zustimmen können. Der Westen kann nicht akzeptieren, dass eine völkerrechtswidrige Aggression am Ende „gelohnt“ hat. Putin wird, vor allem vor dem Hintergrund seiner zunehmend ideologisch verengten Weltsicht, keiner Lösung zustimmen, die er subjektiv als weiterhin bestehende Gefährdung der Sicherheit und der kulturellen Identität Russlands empfindet.
Der einzige Ausweg aus dieser verfahrenen Situation scheint darin zu bestehen, gedanklich einen Schritt zurückzutreten und ein neues, für beide Seiten akzeptables Leitmotiv ins Gespräch zu bringen. Die strukturelle Stabilisierung Europas durch eine qualitative Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses im Sinne einer eindeutigen, wechselseitigen Verteidigerdominanz - also eines Kräfteverhältnisses, in dem aggressive Übergriffe weder in Ost-West noch in West-Ost-Richtung möglich sind und eine sinnvolle militärische Option darstellen - könnte hierbei eine Option sein. Im Zusammenhang mit dem konventionellen Wettrüsten in den 1980er und 1990er Jahren habe ich mich intensiv mit dieser Option beschäftigt und dazu auch eine mehrjährige Workshopserie höchstrangiger militärischer Experten zur Erhärtung der Machbarkeit dieser Optionen organisiert und geleitet. In der gegenwärtigen Situation scheint mir ein derartiger Wechsel des Leitmotivs und der damit verbundene Neuausrichtung der Debatte der möglicherweise einzig gangbare Weg zu sein. Um diese Option zur Debatte zu stellen, habe ich mich an dem Buchprojekt beteiligt.