Das Bild vom ertrunkenen syrischen Jungen am Strand von Bodrum gehört zu den Bildern, an denen niemand vorbeikommt. Uns in der Redaktion ist es entweder in der Zeitung oder im Netz zum ersten Mal begegnet. Die spontanen Reaktionen: Erstarrung, Entsetzen, Fassungslosigkeit und unendliches Mitleid. Gefühle, die sich mit den meisten niedergeschriebenen Emotionen, beispielsweise in Kommentarspalten oder geteilten Beiträgen, decken. Nach dem ersten Schock über dieses Bild und dem Schicksal, das dahintersteckt, begannen aber schon die Diskussionen, ob so ein Bild öffentlich gezeigt und verbreitet werden darf. In der Redaktion sind wir nach wie vor geteilter Meinung. Wir haben den langjährigen Journalisten Udo Stiehl, einen erfahrenen Nachrichtenredakteur (Westdeutscher Rundfunk, Deutschlandfunk), um eine Einschätzung gebeten.
"Hier wurde das Bild eines toten Kindes Mittel zum Zweck"
L.I.S.A.: Herr Stiehl, Sie sind freiberuflicher Nachrichtenredakteur für den Westdeutschen Rundfunk und den Deutschlandfunk und nebenbei auch Blogger. In Ihrem jüngsten Blogeintrag setzen Sie sich mit dem Bild des ertrunkenen Jungen am Strand von Bodrum auseinander. Sie kritisieren den medialen Umgang mit dem Bild. Warum?
Stiehl: Weil hier eine Grenze überschritten wurde, die eigentlich schon durch den Pressekodex klar gesetzt ist. Der sagt eindeutig, dass Bilder von Leichen nur in sehr seltenen Ausnahmefällen veröffentlicht werden dürfen und weist zudem auf den besonderen Schutz Minderjähriger hin. Und die Nahaufnahme eines dreijährigen toten Kindes, mit dem Gesicht im Sand, zudem noch unverpixelt, ist damit ganz klar ein mehrfacher Verstoß gegen diese Regeln. Und selbst, wenn man den deutschen Pressekodex außer Acht lassen würde: Das Foto wurde innerhalb kürzester Zeit in den sozialen Medien verbreitet, zusätzlich von vielen britischen Zeitungen und – wenig verwunderlich – auch von der BILD-Zeitung abgedruckt und auch online veröffentlicht. Hier wurde das Bild eines toten Kindes Mittel zum Zweck. Eine Kinderleiche wurde instrumentalisiert – und das ist verachtenswert.
Reactions to the article
Comment
Für dieses Statement steht die Bildredaktion allerdings nicht allein, sondern diese Auffassung wird auch von Journalisten anderer Redaktionen vertreten. Genau diesen Umgang mit Fotos hat Herr Stiehl in seinem Interview mit guten Argumenten kritisiert, und ich habe mich seiner Meinung angeschlossen. Darüber hinaus habe ich die Wirkung des betreffenden Fotos in der von Ihnen beschriebenen Weise angezweifelt und mich dabei auf die politischen Reaktionen oder besser Nicht-Reaktionen in einigen EU-Staaten bezogen. Interessanterweise ist just am nächsten Tag Stefan Kornelius in der Süddeutschen zur selben Einschätzung dieser politischen Lage gekommen, und das sicherlich nicht, weil er Beiträge auf L.I.S.A. liest, siehe: http://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-zwei-botschaften-1.2638673
Vor diesem Hintergrund frage ich mich, wo genau denn die "Beleidigung Ihrer Meinung" liegen soll, die Sie mir vorwerfen, zumal Sie damit auch andeuten, dass die Redaktion dieses moderierten wissenschaftlichen Forums Beleidigungen einfach so zulässt. Ich bin schlichtweg einer anderen Meinung als Sie, und Meinungsunterschiede sollen in Diskussionen ja durchaus vorkommen. Meine Meinung habe ich auch nicht als "reine Wahrheit" verkauft, sondern ich kann in meiner Einschätzung auch durchaus falsch liegen, wonach es leider momentan aber nicht aussieht. Darüber hinaus ist mir bewusst, dass es sicherlich viele Menschen gibt, die meine Auffassung, so wie Sie, nicht teilen, was ich respektiere. Das wird mich aber nicht daran hindern, meine Meinung weiterhin auch öffentlich zu vertreten.
Comment
(Hinweis der Redaktion: Der oben verlinkte Beitrag enthält Bilder des ertrunkenen Jungen.)
Comment
Man kann das sehr schön am Beispiel Großbritannien zeigen: Am 4.09. erschien von J. Buchsteiner in der FAZ ein Artikel mit der Überschrift "Die Entdeckung der Moral", und in der Unterüberschrift wurde dem Leser erklärt, D. Cameron wäre durch das Bild des toten Aylan Kurdi zu einer Kehrtwende in seiner Asylpolitik veranlasst worden (http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/david-cameron-die-entdeckung-der-moral-13785837.html). Während auf der ersten Seite diese vermeintliche Kehrtwende Camerons überschwänglich gefeiert und Großbritannien als ein Land im "Flüchtlingsfieber" beschrieben wurde, erfuhr der erstaunte Leser auf Seite 2, dass unter Camerons Kehrtwende ungefähr die Haltung zu verstehen ist, die Australien und Kanada in der Asyl- und Einwanderungspolitik an den Tag legen (verkürzt: Einreiseerlaubnis nur für handverlesene Ausländer und rigide Abschiebepraktiken). Dass die so genannte Kehrtwende nicht nur von Cameron, sondern auch innerhalb der britischen Bevölkerung eine Illusion ist, konnte man heute morgen nachvollziehen, als Die Zeit das Ergebnis der dortigen Abstimmung zur Durchführung des Referendums über den Verbleib in der EU publizierte: 316 gegen 53 Abgeordnete für eine Durchführung des Referendums bei gleichzeitigen Umfragergebnissen von 43 % Ablehnern der EU gegen 40 % Befürworter der EU (http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/eu-grossbritannien-austritt).
Kontrastieren wir das mit der Stimmung in anderen EU-Staaten. 10 Millionen Euro wird Großbritannien für Stacheldraht etc. in Calais zusätzlich ausgeben. Merkwürdigerweise arbeitet sich nahezu die gesamte mediale Welt zumindest in Deutschland aber fast ausschließlich an Viktor Orbán und "DEN Ungarn" ab, obgleich in Ungarn genau das paktiziert wird, was Spanien und Portugal schon vor langer Zeit getan haben und Großbritannien gerade ebenfalls tut. Die Begleitrhetorik in Großbritannien ist halt eine andere als in Ungarn. Ungarn steht freilich nicht allein, und weder dort noch in vermutlich allen osteuropäischen EU-Staaten gibt es signifikante Hinweise darauf, dass dort eine ähnliche Haltung an den Tag gelegt würde wie in Deutschland. Vielmehr assistieren Polen, die Slowakai, Tschechien und Estland den Ungarn in abwechselnder Reihenfolge, und es ist nicht erkennbar, dass dieser regelrechte politische Block über Nachte eine Kehrtwende vollziehen würde (nebenbei fast alles Länder mit sehr stabilen Mehrheiten innerhalb der Parlamente). Orbán wird im Übrigen auch in Österreich von weiten Teilen der Bevölkerung frenetisch gefeiert, und die FPÖ marschiert derweil stramm in Richtung 40 %. Von Marine Le Pen, die das Ganze noch mit einem antideutschen Zungenschlag versieht und einen kopflosen François Hollande vor sich her treibt (mittlerweile mit zumindest inhaltlicher Unterstützung der Republikaner), wollen wir mal ganz schweigen.
Bleiben als Rettungsanker für den vermeintlichen europäischen Umschwung noch Spanien und Portugal. Beide befinden sich auf Tauchstation, und angesichts von nach wie vor 50 % Jugendarbeitslosigkeit in diesen beiden Ländern dürften die dortigen Bevölkerungen auch ziemlich froh darüber sein, dass ihre schon vor langer Zeit gebauten Grenzsicherungen offenkundig halten.
Skandinavien, ja die liberalen Sklandinavier, die müssten doch dieselbe Haltung an den Tag legen wie in Deutschland! Wie sieht jedoch die Realität aus? Die liberale Minderheitsregierung in Kopenhagen, die von der Dänischen Volkspartei gestützt wird, hat das dänische Asylrecht binnen kürzester Zeit nach den Wahlen dramatisch verschärft, und man wird an der deutsch-dänischen Grenze vermutlich demnächst wieder Grenzkontrollen einführen. Vebleiben Schweden und Finnland - im einen Land sind die rechten Schwedendemokraten innerhalb von Monaten von 5 auf jetzt fast 20 % angewachsen, und im anderen Land regieren die Wahren Finnen schon mit - dürften davon hoch erfreut sein, weil man nämlich auf dem Landweg nur über Dänemark in ihre Länder einreisen kann.
Also, wenn ich das jetzt mal so zusammenfassend betrachte, dann kann ich von der Auswirkung eines Fotos auf die Realpolitik in Europa nur wenig erkennen. Was ich allerdings erkenne, ist eine dramatische und sich Tag für Tag verschärfende Krise der EU, die sich von einer Wirtschaftskrise in eine politische Krise verwandelt hat, die mit einer innereuropäischen Entsolidarisierung einhergeht, die ihresgleichen sucht, und in der Deutschland demnächst ziemlich allein auf weiter Flur dastehen könnte.
Comment