L.I.S.A.: Aus den Debatten der Vergangenheit zur Sportgeschichte wissen wir, dass diese in der Regel meist leidenschaftlich bzw. hitzig verlaufen. Woran liegt das? Warum ist Sport ein so hart umkämpftes Themenfeld?
Dr. Schäfer: Sportgeschichte bildet alle zentralen Themen der deutschen Geschichte ab. Daher birgt die Sporthistoriografie das gleiche Konflikpotential wie die klassische Geschichtsschreibung. Auch sie erlebte heftige Debatten, über den deutschen Sonderweg in die Moderne, die Ursachen des Ersten Weltkriegs oder Historiker im Nationalsozialismus. Auch in der Sporthistoriografie wird um Geschichtsbilder gestritten, bisher vor allem um den Sport im Nationalsozialismus, wobei die Debatten ein besonders Gewicht durch die im internationalen Vergleich große Staatsnähe der deutschen Sportverbände erlangen.
Zugleich schlägt ein eigentümlicher Modernisierungsrückstand der verbandsnahen Sporthistoriografie zu Buche, die kaum Anschluss an die Geschichtswissenschaft hält. Zugrunde liegt entweder eine Idealisierung des Sports oder seiner Protagonisten. Unerwünschte Analysen zum NS-Sport werden zugunsten einer apologetischen Meistererzählung marginalisiert, die auf Akteure des NS-Sports selbst zurückweist. Doch löste diese Sicht Sport und Sportler, Sportfunktionäre, -politiker und -wissenschaftler aus ihrem jeweiligen historisch-politischen Kontext. Resultat dieser Entwicklung war ein bis heute anhaltender problematischer Umgang mit dem NS-Vergangenheit des deutschen Sports. Dessen Wurzeln reichen bis in die späten vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts zurück.
Damals erklärten die Zeitgenossen des NS-Regimes den Sport im Nationalsozialismus einfach zur privaten Nische oder zum gesellschaftlichen Teilbereich mit eigenen Regeln, den man wirksam gegen politische Einflußnahmen verteidigt hätte. Echte Nazis habe es dort gar nicht gegeben. Sport und Sportler seien stets unpolitisch gewesen, allenfalls vom NS-Regime “instrumentalisiert” oder sie hätten umgekehrt das Regime instrumentalisiert und in den Dienst einer gesunden Sportentwicklung gestellt. Diese Lebenslüge, die alle Partizipation am NS-Regime leugnete, ermöglichte dem Sportmilieu nach 1945 eine Wiederbegründung ohne schmerzhafte Selbstprüfungen. Dank einer auf Diem selbst zurückweisenden Schule in Wissenschaft und Verbänden gerann die Apologie in Deutschland zum Paradigma.
Die Linie gab er selbst vor, als er die Geschichte des NS- und des olympischen Sports schrieb. Dabei nahm er für sich und die ganze olympische Bewegung eine besondere moralische Autorität in Anspruch, indem er etwa behauptete, er habe die Spiele von 1936 zur „Oase der Freiheit“ und „Insel der Rassengleichberechtigung“ gestaltet. Heute wird sie unter anderem als „Auszeit des Regimes“ bezeichnet. Obwohl Diems NS-Vergangenheit schon seit Ende der vierziger Jahre wiederholt in Öffentlichkeit, Politik und Wissenschaft kritisiert wurde, verbreitete der wissenschaftliche Beirat des Diem-Projekts noch 2009, Diem sei nie Nationalist, Militarist, Nationalsozialist oder Antisemit gewesen. Es gebe “keine Hinweise auf moralisch verwerfliche Handlungen oder Entscheidungen Carl Diems im Dritten Reich”.[1] Im Gegenteil sei er gar ein Vorbild für die Gegenwart. Diese moralische Aufladung programmiert eine schmerzhafte Fallhöhe und damit heftige Reaktionen vor.
Nachdem der damalige Präsident des Deutschen Olympischen Sportbunds, Thomas Bach, heute Präsident des IOC, und der Generalsekretär des DOSB Michael Vesper zunächst dieser Sprachregelung gefolgt waren, korrigierten sie unter dem Eindruck der intensiven öffentlichen Debatte ihren vergangenheitspolitischen Kurs später, anscheinend aber ohne die notwendigen Schlüsse für den weiteren Umgang mit der NS-Vergangenheit des deutschen und olympischen Sports zu ziehen. Bis dahin aber konnten die Apologeten davon ausgehen, im Einklang mit der Vergangenheitspolitik des deutschen Sports zu handeln, hatte doch Willi Daume, der erste Präsident des Deutschen Sportbunds und spätere Vorsitzende des NOK, mit Blick auf die exemplarischen Debatten um Diems NS-Vergangenheit schon bei Gründung des Deutschen Sportbunds 1950 dekretiert: "Es muss um alle Gegensätze einmal Ruhe sein. Es darf jetzt auch keinen Fall Diem mehr geben mit allen möglichen Polemiken. Man muss auch vergessen können."[2] Seitdem wird die Gründung des DSB als Endstation aller “Wege aus der Not zur Einheit” gefeiert.[3]
Anders als in der Weimarer Republik waren die konfessionellen, die Arbeiter- und die sich vor 1933 bürgerlich nennenden Sportverbände nun in einer demokratischen Organisation vereint. Sport gilt seitdem als Propädeutikum der Demokratie und Olympismus als international ausgerichtete Friedenserziehung. Die Tatsachen, dass die konfessionellen und die Arbeiterorganisationen nach 1933 zerschlagen wurden, die bürgerliche Sportverbände aber die organisatorische und personelle Grundlage für den NS-Sport und seine Teilnahme an der internationalen olympischen Bewegung stellten, wurde zugunsten der möglichst reibungslosen Schaffung eines demokratischen Einheitssportverbands verdrängt. NS-Sportfunktionäre, gleich, ob sie ihre Karriere vor oder nach 1933 begannen oder ob sie im deutschen, internationalen oder olympischen Sport tätig waren, wurden entlastet und in demokratischem Proporzdenken dem “bürgerlichen” Sport zugerechnet. Für die Geschichtspropaganda der DDR war das ein gefundenes Fressen. Sie tat den Neuanfang des Sports im Westen als bloße Restauration des NS-Sports ab. Vom Standpunkt der westlichen Demokratie dagegen fiel es im Gegenzug einfach, den Staatssport der DDR zu kritisieren. Doch geschah dies um den Preis der Verdrängung der NS-Vergangenheit des deutschen Sports und vieler seiner Protagonisten, für die der Konflikt über den Sportwissenschaftler, -politiker und Olympiaorganisator von 1936, Carl Diem, nur exemplarisch steht.
Dabei wirkten im Westen starke persönliche Loyalitätsbeziehungen und personelle Verflechtungen zwischen Sportwissenschaft und -verbänden. 1964 wurde das Carl-Diem-Institut (heute Carl und Liselott Diem-Archiv) gegründet, das zugleich als offizielle Forschungsstätte des olympischen Sports dient. Bis 1990 wurde es von Diems Witwe Liselott geleitet, dann von Karl Lennartz, nach eigenem Bekunden der Familie eng verbunden. Die Geschichte der deutschen olympischen Bewegung wurde im Auftrag des Deutschen Sportbunds und des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, heute im Deutschen Olympischen Sportbund zusammengefasst, quasi im Familienbetrieb weiter geschrieben, im Freundes- und Bekanntenkreis der Diems, ihrer Schüler und Weggefährten. Dieser Personenkreis, zu dem auch Guido von Mengden gehörte, organisierte in allen Konflikten um Diems NS-Vergangenheit die Abwehrarbeit, schon seit den späten vierziger Jahren gegen Kritiker im Westen, im Kalten Krieg gegen die DDR-Geschichtspropaganda, zu den Münchner Spielen 1972 gegen kritische Sportstudenten und -wissenschaftler, Öffentlichkeit und Presse in der Bundesrepublik. Dabei wurde die Apologie Diems und des NS-Sports insgesamt in bewußtem Gegensatz zur bundesdeutschen Linken angelegt, vor allem gegen die Achtundsechziger, deren Sicht auf das NS-Regime als illegitim galt.
Sportgeschichte ist also ein extrem politisiertes Feld. Es wird auch in Zukunft ein idealer Nährboden für spannende Debatten sein, die aber nicht mehr nur den NS-Sport, sondern ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges auch den Sport der Bundesrepublik und den olympischen Sport der Nachkriegszeit betreffen.
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[1] Ommo Grupe / Michael Krüger / Christiane Eisenberg / Gertrud Pfister / Hans Joachim Teichler / Karl Lennartz / Norbert Müller, Wissenschaftlicher Beirat zum Forschungsprojekt »Leben und Werk Carl Diems«, 1. März 2010. Empfehlung an den Deutschen Olympischen Sportbund und die Deutsche Sporthochschule Köln zum Umgang mit Namen und Werk sowie zur Erinnerung an Carl Diem, in: Krüger (Hg.), Erinnerungskultur im Sport, S. 219–221, Zitate S. 221.
[2] Protokoll der Gründungsversammlung einer Dachorganisation des Deutschen Sports am 10. Dezember 1950 in Hannover, S. 97–123, in: Deutscher Sportbund (Hg.), Die Gründerjahre des Deutschen Sportbunds. Wege aus der Not zur Einheit, Schorndorf 1991, Bd. 1, Zitat S. 123.
[3] So der Titel der Festschrift zur vierzigsten Wiederkehr der Gründung des DSB; siehe vorige Anmerkung.