In diesem Jahr feiert die Schweiz das Inkrafttreten der Bundesverfassung vor 175 Jahren, mit der die Eidgenossenschaft vom Staatenbund zum Bundesstaat geeint wurde. Als ursprüngliches Gründungsdatum jedoch gilt das Jahr 1291, in dem sich die drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden im berühmten "Rütlischwur" zusammenschlossen. Die Wahrnehmung dieser Episode Schweizer Geschichte wurde und wird bis heute maßgeblich von Friedrich Schiller und dessen Wilhelm Tell bestimmt – in einem Maße wie wohl kaum ein anderes literarisches Werk das Bild eines historischen Ereignisses geprägt hat. Doch ist Schillers Tell, der tapfere Nationalheld, der sich gegen die habsburgische Fremdherrschaft auflehnt, lediglich eine literarische Interpretation. So unbestreitbar sein kultureller Einfluss, so umstritten auch sein historischer Kern. Mit diesem hat sich der Historiker Prof. Dr. Werner Meyer jahrzehntelang beschäftigt. Wir haben ihn gefragt, was den Mythos ausmacht und welche historische Wahrheit sich tatsächlich hinter ihm verbirgt.
"Ein schlüssiges Gesamtbild entwerfen"
L.I.S.A.: Herr Professor Meyer, Sie waren lange Jahre ordentlicher Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Basel und haben sich in dieser Zeit umfassend mit Geschichtsmythen auseinandergesetzt. Wie ist zu dem nun vorliegenden Buch in Zusammenarbeit mit Angelo Garovi gekommen und welches Ziel verfolgen Sie mit der Veröffentlichung? Eine Art Opus Magnum?
Prof. Meyer: Außer im Hauptfach Geschichte habe ich im einen Nebenfach in Historischer Volkskunde promoviert. So bin ich mit der Frage des wissenschaftlichen Umgangs mit Mythen und Sagen in Berührung gekommen, wofür ich meinem Doktorvater Prof. Hans Georg Wackernagel zu großem Dank verpflichtet bin.
Im Zuge meiner Feldforschungen habe ich auch Ausgrabungen in der Innerschweiz (Burgen und hochalpine Wüstungen) durchgeführt. So bin ich ich mit den Historikern der Innerschweiz in einen fruchtbaren und freundschaftlichen Kontakt geraten. Mit Angelo Garovi, damals Staatsarchivar von Obwalden, fühlte ich mich besonders eng verbunden wegen dessen Interesse an der Archäologie und an der im "Weissen Buch von Sarnen" erstmals festgehaltenen Tell- und Befreiungssage, der ich die archäologischen Befunde von Burgengrabungen entgegenhalten konnte.
Das neu erschienene, von Angelo Garovi und mir verfasste Buch über die Entstehung der Eidgenossenschaft enthält zwar einige bisher nicht oder nur beiläufig publizierte Forschungsergebnisse, fasst aber im Wesentlichen die seit dem frühen 19. Jahrhundert von der kritischen Forschung erarbeiteten Erkenntnisse zusammen und versucht so, unter Einbeziehung all der verschiedenartigen Einzelaspekte, also der Aussagen von Schriftquellen der Zeit, von Realien und archäologischen Funden, ein schlüssiges Gesamtbild zu entwerfen. Wir halten dieses Ziel für wichtig, da im allgemeinen Geschichtsbewusstsein des breiten Volkes – und leider auch der rechtsgerichteten Politiker – die Erzählungen von Tell und den vermeintlichen Freiheitskämpfen noch immer als historische Fakten gelten. Unser Buch richtet sich nicht nur an Fachleute (von denen es im engeren Sinne wenige gibt), sondern vor allem an ein breites, an Geschichte interessiertes und für neue Erkenntnisse offenes Publikum – auch ausserhalb der Schweiz.
Im Hinblick auf meine anderen umfangreichen, zum Teil allein, zum Teil in Gemeinschaft mit anderen Kollegen verfassten Buchpublikationen (über Grabungen auf dem Krak des Chevaliers in Syrien, über Grabungen in Bhutan, auf Schweizer Burgen und hochalpinen Wüstungsplätzen, über Turniere, das Erdbeben von Basel, das Alltagsleben im Mittelalter etc.) halte ich den Gedanken, mit dem neuen Buch über die Anfänge der Schweiz ein "Opus Magnum" verfasst zu haben, für obsolet. Wichtig war mir vor allem die ganzheitliche Betrachtung des Themas. Angelo Garovi und ich hoffen, ein Werk geschaffen zu haben, dessen Inhalt noch lange Zeit gültig bleibt.