Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Georg Vobruba von der Universität Leipzig hat das, was man landläufig eine steile These nennt: Die Eurokrise befördert den europäischen Integrationsprozess. Das überrascht angesichts der aktuellen Konfliktlage rund um den Euro, den Streit um Griechenland und die Fraktionsbildungen innerhalb der europäischen Institutionen einerseits sowie europakritischen Tendenzen in den Mitgliedsländern andererseits. Wie er zu seiner These kommt und welche Gründe er dafür anführt, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Noch nie war das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit zu intensiv"
L.I.S.A.: Herr Professor Vobruba, gemeinsam mit Frau Dr. Jenny Preunkert haben Sie gerade einen Band herausgegeben, der sich "Krise und Integration. Gesellschaftsbildung in der Eurokrise" nennt. Dem Sammelband liegt die These zugrunde, dass Europa durch die aktuelle Krise eher zusammenwachse, als dass es auseinanderdrifte. Wie kommen Sie angesichts der gegenwärtigen Konfliktlage, in der übergreifend eine historische Krise des europäischen Einigungsprojekts gesehen wird, zu dieser Behauptung?
Prof. Vobruba: Man muss sich von der Vorstellung befreien, dass Gesellschaftsbildung auf Harmonie beruhen muss. Schon die Alltagserfahrung lehrt, dass Konflikte in modernen Gesellschaften der Normalfall sind. Keine Form von Gesellschaftsbildung liegt bei Indifferenz vor, also wenn man einander nicht zur Kenntnis nimmt. Konflikt dagegen bedeutet, dass die Leute in ein Verhältnis zueinander treten. Das gilt für einzelne Personen ebenso wie für Personengruppen, auch für große. Und genau das können wir zurzeit in der Europäischen Union beobachten: Noch nie haben sich unterschiedliche Teile der Bevölkerung der EU so intensiv miteinander abgegeben; noch nie war das Bewusstsein wechselseitiger Abhängigkeit so intensiv. Ob man das "Zusammenwachsen" nennen sollte, bin ich nicht sicher. "Gesellschaftsbildung" trifft genauer, was sich da ereignet.