Welche Muster können identifiziert werden, die den Konflikt-Flucht-Nexus beschreiben? Auf der Grundlage unterschiedlicher, empirischer Studien lassen sich vier Ebenen herausstellen, die diese Zusammenhänge darlegen:
(1) Konflikte als Fluchtursachen
Wie das eingangs genannte Beispiel zu Syrien veranschaulicht, tragen gewaltsame Konflikte dazu bei, dass Menschen dazu gezwungen sind, ihre Herkunftsorte zu verlassen und im Land oder über Landesgrenzen hinweg zu fliehen. Hierbei sind zwei Aspekte zu berücksichtigen: Zum einen stellen Konflikte und Flucht keine punktuellen, kurzfristigen Momente dar, vielmehr kann wiederaufflammende Konfliktgewalt entsprechend zu wiederkehrenden Fluchtbewegungen führen. Zum anderen fliehen Menschen nicht nur vor physischer Gewalt, sondern auch aufgrund der komplexen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Konfliktauswirkungen. So können bspw. soziale, zuvor schützende Verhältnisse zusammenbrechen und wirtschaftliche Rezessionen zu unzureichenden Lebensgrundlagen, Hunger und Armut führen.
(2) Anhaltende Konfliktgewalt und -folgen bedingen langwierige Flüchtlingssituationen
Im internationalen Flüchtlingsschutz gibt es drei dauerhafte Lösungen: freiwillige Repatriierung in das Heimatland, Umsiedlung in ein sicheres Drittland und lokale Integration im Asylland. Die politisch präferierte Lösung ist die Repatriierung in das Herkunftsland, Flüchtlinge können allerdings erst dann zurückkehren, wenn relative Sicherheit und Stabilität vorherrscht. Langanhaltende Unsicherheit und Instabilität in Herkunftsländern führen also dazu, dass Menschen über viele Jahre hinweg in Asylländern bleiben müssen. Es entstehen Langzeitsituationen, sogenannte protracted refugee situations, die UNHCR als solche definiert, bei denen mindestens 25.000 Flüchtlinge derselben Nationalität seit fünf oder mehr Jahren in einem Asylland leben. Die durchschnittliche Dauer dieser Langzeitsituationen ist mittlerweile 26 Jahre (siehe UNHCR 2016, S. 20).
Wie anhaltende Konfliktgewalt und ihre Auswirkungen zu langwierigen Flüchtlingssituationen beitragen können, zeigen u.a. die Konflikte in Afghanistan: bereits 2003 waren ca. 2,5 Mio. Flüchtlinge in Aufnahmeländern, wobei sich aufgrund der Konfliktfolgen 2015 nach wie vor etwa 2,7 Mio. Flüchtlinge außerhalb Afghanistans befanden. Ähnliche Entwicklungen sind etwa in Somalia und in der Demokratischen Republik Kongo erkennbar. Im Rahmen meiner Feldforschung in Uganda 2014 sprach ich bspw. mit zwei kongolesischen Flüchtlingen, die 1965 aus ihrer Heimat geflohen sind und seither in Flüchtlingslagern leben.
(3) Flüchtlingssituationen als Faktoren für anhaltende Konfliktgewalt
Gewaltsame Konflikte können nicht nur auf Flucht und Flüchtlinge wirken, sondern auch umgekehrt Flüchtlingssituationen auf Konflikte. Bereits 1988 unterstrich UNHCR, dass die Sicherheit von Flüchtlingen in Flüchtlingslagern aufgrund vorsätzlicher militärischer und bewaffneter Angriffe nicht gewährleistet sei, Flüchtlingslager militarisiert und Flüchtlinge in kämpfende Gruppen zwangsrekrutiert würden. Empirische Studien belegen zudem, dass etwa die Khmer Rouge Flüchtlingslager an der thailändischen Grenze als Militärbasen nutzten, sich liberianische Rebellen in Lagern in Guinea kurzfristig ausruhten und die südsudanesische SPLA Soldaten in ugandischen Flüchtlingslagern zwangsrekrutierten. Somit können sich Flüchtlingslager zu Orten der Militarisierung entwickeln, in denen Flüchtlinge vielfältigen Gefahren ausgesetzt sind.
Daran anknüpfend wird teilweise auf die Gefahr hingewiesen, dass sich Konfliktgewalt mit Fluchtbewegungen ausbreiten würde, sodass es quasi zu einer geographischen Verlagerung der Konflikte in Regionen käme, in die die Menschen fliehen würden. Solche Verallgemeinerungen werden wissenschaftlich nicht umfassend gestützt. Sie drohen vielmehr, Flucht und Flüchtlinge als Sicherheitsgefahren darzustellen, wobei jene Sicherheitsrisiken, vor denen die Menschen fliehen, in den Hintergrund rücken. Wiederaufflammende Konfliktgewalt kann zwar die Sicherheitslage von Flüchtlingen insbesondere in Flüchtlingslagern verschlechtern, was auch die Übergriffe auf ein Flüchtlingslager im Niger im Oktober 2016 zeigen, jedoch bedeutet dies keine Konfliktverlagerung. Im Kontrast dazu betonen Studien vielmehr, dass Flüchtlinge positive Wirkungen auf die Region und Bevölkerung des Asyllandes haben können und dass sich Flüchtlinge wirtschaftlich engagieren und zur Entwicklung des Landes beitragen.
(4) Gewaltkontinuum in Konflikt, Flucht und Flüchtlingssituationen
Das Verlassen von Konfliktgebieten offenbart wohl die deutlichste Suche nach Sicherheit, wobei ein Ende von Konflikten nicht auch ein Ende von konfliktbedingter Gewalt bedeutet. Vielmehr stellen WissenschaftlerInnen aus der Friedens- und Konfliktforschung wie Haynes, Aolain und Cahn (2011) oder Turshen, Meintjes und Pillay (2001) heraus, dass Menschen – dabei insbesondere Frauen – auch in Postkonfliktsituationen mit Gewalt konfrontiert sind. Auf Flüchtlingssituationen übertragen zeigt sich, dass Flüchtlinge nicht nur in Konfliktgebieten, sondern auch auf der Flucht und in Flüchtlingssituationen vielfältigen Gewaltgefahren ausgesetzt sein können. Dies lässt sich anhand eines Gewaltkontinuums beschreiben. Am Beispiel kongolesischer Flüchtlinge in Uganda kann beschrieben werden, wie Männer und Frauen im Konflikt, auf der Flucht und in Flüchtlingslagern sexuelle und geschlechterbasierte Gewalt erfahren können. Darüber hinaus können repatriierte Flüchtlinge und Menschen, die nicht geflohen sind, in Herkunftsländer mit anhaltender Gewalt konfrontiert sein. So waren etwa RückkehrerInnen in Burundi und Afghanistan Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt.
Zum Gewaltkontinuum gibt es bislang nur vereinzelte Studien (siehe Ferris 1990, Cockburn 2004 und Krause 2015), da Forschende meist einen Fokus auf bestimmte Räume und Zielgruppe setzen – d.h. auf Menschen im Konflikt oder in Flüchtlingssituationen. Auch in der humanitären Arbeit bestehen solche Schwerpunktsetzungen. Obwohl anhaltende Gewalt erkennbar sind, bleiben Konflikte und Flüchtlingssituationen also getrennt voneinander erforscht und bearbeitet.