Die Jubiläen in der Philosophie dominiert in diesem Jahr eindeutig Immanuel Kant. Sein 300. Geburtstag prägt den Buchmarkt, Feuilletons und Veranstaltungen. Einem anderen und nicht minder bedeutenden Gelehrten ist in diesem Jahr auch zu gedenken: Thomas von Aquin, der vor 750 Jahren, am 7. März 1274, gestorben ist. Sein 700. Todestag im Jahr 1974 war der Deutschen Bundespost noch eine Sonderbriefmarke wert, das gegenwärtige Echo in der Öffentlichkeit verhallt indes rasch. Grund genug, um sich Thomas von Aquin genauer zu widmen. Prof. Dr. Andreas Speer, Direktor des Thomas-Instituts der Universität zu Köln, hat unsere Fragen beantwortet.
„Die nicht hintergehbare Verschränkung von Geist, Seele und Körper“
L.I.S.A.: Herr Professor Speer, in diesem Jahr sprechen alle von Immanuel Kant, dessen Geburtstag sich zum 300. Mal jährt. Einen ähnlich runden Jahrestag bietet ein anderer Gelehrter, der allerdings zurzeit kaum bedacht wird: vor 750 Jahren starb Thomas von Aquin, im kommenden Jahr wird sein Geburtstag 800 Jahre her sein. Für Sie, der seit langem zu Thomas von Aquin forscht und publiziert und zudem Direktor des renommierten Thomas-Instituts der Universität zu Köln sind, dürften diese Daten gleich auf der Hand liegen. Hat man Thomas von Aquin heute vergessen? Hat seine Lehre uns heute nichts mehr zu sagen?
Prof. Speer: In der Tat war vor 50 Jahren das Thomas-Jubiläum viel präsenter – nicht nur allgemein, sondern vor allem in der akademischen Öffentlichkeit. Dass Thomas zu den einflussreichsten Denkern und großen Klassikern der Philosophie-, Theologie- und Wissenschaftsgeschichte zählt und seine „Summa theologiae“ zu den „great books“, steht außer Zweifel. Nicht nur durch seine Wirkungsgeschichte, sondern auch in systematischer Hinsicht ist Thomas auch heute noch ein interessanter und – so möchte ich sagen – wichtiger Gesprächspartner. Ich denke da an seinen umfassenden Entwurf einer Ethik als eine spezifisch praktische Wissenschaft, die im Spannungsfeld von Philosophie und Theologie die Autonomie und Freiheit des handelnden Individuums in den Mittelpunkt stellt, an seine bahnbrechende Naturrechtslehre oder an die komplexe Epistemologie und Psychologie, die gleichermaßen gegen reduktionistische wie dualistische Vorstellungen die ebenso enge wie nicht hintergehbare Verschränkung von Geist, Seele und Körper in aller Konsequenz herausarbeitet.