L.I.S.A.: Im Titel Ihres Buches sprechen Sie auch von der „unvollkommenen Gesellschaft“, in der der Eid zum Einsatz kommt, aber auch noch heute ist er in einigen Kontexten wirkmächtig. Zumeist begegnet er uns bei Amtseinführungszeremonien, vor Gericht oder auch in der Politik – man denke beispielsweise an das Amtsenthebungsverfahren gegen den 42. Präsidenten der USA, Bill Clinton. Was können wir von einer genauen Beschäftigung mit dem Eid und seinem Verhältnis zu Religion und Vertrauen für die Interpretation unserer heutigen Gesellschaft lernen?
Dr. Behrmann: Mit der „unvollkommenen Gesellschaft“ spiele ich auf die christliche Vorstellung der perfectio und auf das Streben nach selbiger an. In einer vollkommenen Welt – oder besser, in einer Welt mit vollkommenen Menschen – wäre ein Eid nicht erforderlich. Aber die Schwäche des Menschen macht ihn zu einem „notwendigen Übel“.
Natürlich ist auch heute noch der Eid eine vertrauensstiftende Ressource, die eine Aussage oder eine Handlung glaubwürdiger und verlässlicher machen soll. Gerade bei politischen Vereidigungen hat dieser Akt darüber hinaus einen symbolischen Charakter, den er zweifellos auch damals schon hatte. Der Eid soll etwas Unsichtbares – die Treue, die Glaubwürdigkeit – sichtbar machen.
Allerdings wird in einer zunehmend säkularen Welt auch nicht immer im Namen Gottes geschworen, außerdem gibt es bereits seit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 die „Versicherung an Eides statt“. Viele Leserinnen und Leser des L.I.S.A. Wissenschaftsportals dürften aus dem eigenen Studium die eidesstattliche Erklärung kennen, mit der man gegenüber der Universität versicherte, die Seminararbeit ohne fremde Hilfe und nur mit den angegebenen Quellen angefertigt zu haben. Im deutschen Rechtsystem liegt die Maximalstrafe für eine falsche Versicherung an Eides statt übrigens nur wenig unter der für Meineid.
Ob mit oder ohne Anrufung Gottes zeigt sich also, dass noch immer großer Bedarf daran besteht, in bestimmten Situationen eine Aussage oder Handlung verlässlicher zu machen – auch wenn die Frage erlaubt sein dürfte, wie groß heute noch die Angst bei Schwörenden vor einer Strafe Gottes ist. So oder so hält heute ebenso wie damals ein Schwur den Menschen nicht zwangsläufig vom Bruch desselbigen ab.
Besonders spannend ist aber tatsächlich die Frage, was wir aus der damaligen Zeit für die Vertrauensforschung der Gegenwart lernen können. Je komplexer eine Gesellschaft ist, umso wichtiger ist Vertrauen, um ihr Funktionieren zu gewährleisten. Vertrauen in das System, Vertrauen in die Institutionen – aber auch Vertrauen, dass der Handwerker weiß, was er tut, der Autobauer kein unbrauchbares Gefährt produziert oder der Arzt eine umfassende Ausbildung erfahren hat. Je komplexer die Welt und die Gesellschaft wird, desto weniger kann jeder Einzelne alles überblicken und verstehen und muss Vertrauen darin haben, dass andere Menschen die notwendige Expertise mitbringen und nichts Böses im Schilde führen. Ein Zusammenleben kann nicht auf Misstrauen fußen, das wussten auch schon die Karolinger.
Natürlich kann man die Welt des Mittelalters nicht mit der heutigen vergleichen, daher sollte man immer vorsichtig damit sein, irgendetwas daraus für das Handeln der Gegenwart abzuleiten. Aber auch wir erleben derzeit eine Kaskade gesellschaftlicher und politischer Krisen und Herausforderungen: Auf die Finanzkrise folgte die die sog. Flüchtlingskrise, dann Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg, Inflation und allumspannend natürlich der Klimawandel. Angesichts wiederholter Krisen ist es – damals wie heute – umso wichtiger, dass man Vertrauen in die politische Führung haben kann, die naturgemäß mit ihren Entscheidungen maßgeblichen Einfluss auf die Bewältigung dieser Krisen hat. Und auch heute sehen wir – aus ganz verschiedenen Gründen sicherlich – ein schwindendes Vertrauen, das nachweislich zu Politikverdrossenheit und zu einem Erstarken populistischer Strömungen führt. Vertrauen hat eine stabilisierende Wirkung auf Gesellschaften. Ohne dass dieses Interview jetzt allzu politisch enden soll, tun wir daher denke ich alle gut daran, uns nochmal bewusst zu machen, wie wichtig ein Verhalten ist, das anderen Menschen Vertrauen in unsere Handlungen gibt. Ein Eid alleine wird dabei jedenfalls nicht helfen können.