In Ruanda jährt sich morgen der Beginn des Völkermords. Vom 6. April bis Mitte Juli 1994 töteten Angehörige der Hutu-Mehrheit bis zu geschätzt eine Million Mitglieder der Tutsi-Minderheit sowie gemäßigte Hutu. Seither steht die ruandische Gesellschaft vor der Herausforderung, den Genozid aufzuarbeiten, ohne auseinanderzubrechen. Die Regierung baut dabei auf die Schaffung einer neuen Einheit. Die Ethnologin Erika Dahlmanns forscht über die ruandische Einheitspolitik und nimmt die unterschiedlichen Strategien zur Neugestaltung von Gemeinschaft in den Blick. Wir wollten von ihr unter anderem wissen, worauf beruft sich die Regierung zur Beförderung eines neuen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls, welche Rolle dabei der Rückgriff auf Traditionen spielt und welche Bedeutung der kolonialen Vergangenheit zukommt.
"Rückbesinnung auf eine ruandische Identität und Tradition"
L.I.S.A.: Frau Dahlmanns, am 6. April 1994 begann in Ruanda der Genozid an der Volksgruppe der Tutsi. Sie forschen im Rahmen Ihres Dissertationsprojekts zu Ruanda und stellen darin die Frage, wie nach der traumatischen Erfahrung des Völkermords Gemeinschaft in Ruanda neu gestaltet werden kann. Ist das nach so kurzer Zeit denn überhaupt möglich? Wie schätzen Sie die aktuelle Lage in Ruanda ein?
Dahlmanns: Die Frage, wie nach der Erfahrung des Genozids Gemeinschaft neu gestaltet werden kann, lässt sich ohne die hierzu vor Ort kursierenden Vorstellungen kaum sinnvoll beantworten. In Ruanda entstehen seit dem Ende des Genozids visionäre Bilder einer neuen Gemeinschaft und ihrer Neugestaltung, die an sich bereits als eine Form des Umgangs mit der belastenden und bis heute umstrittenen Vergangenheit begriffen werden können. In der Regierungspolitik, in Alltagserzählungen und auch in der Kunst sind diese eng mit Geschichtsbildern verbunden, die Erklärungen für Missstände in der Vergangenheit anbieten. Unter Rekurs auf die aus der Geschichte gezogenen Lehren richten sie sich auf die Zukunft und begründen Gestaltungsvisionen, die vor Ort ihre eigene Wirkungsmacht entfalten. Diese Bilder sind Teil der gesellschaftlich bedeutsamen Inszenierung der Überwindung des Genozids und der Neugestaltung von Gemeinschaft, ohne dass sie eindeutig etwas darüber aussagen könnten, wie es um den Gemeinschaftssinn 22 Jahre nach dem Ende des Genozids tatsächlich steht.
Auffälligerweise orientieren sich diese Bilder einerseits an glorifizierenden Vorstellungen eines heroischen Zeitalters des vorkolonialen Königreichs und an alten Mythen, die die Stärke der Ruander als Gemeinschaft beschwören. Andererseits beinhalten sie zugleich moderne Entwicklungsvisionen, die zur Gestaltung einer besseren Zukunft die Leistung des Einzelnen einfordern. Die Auseinandersetzung mit dem Genozid verbindet sich in Ruanda heute insbesondere seitens der Regierung mit einer Rhetorik des Kampfes gegen Ansichten, die die Gemeinschaft zu spalten und die neue politische Ordnung der RPF (Rwandan Patriotic Front) zu delegitimieren drohen. Zugleich ist sie mit der Forderung nach der Rückbesinnung auf eine ruandische Identität und Tradition verbunden, deren Bilder neu entworfen werden.
Im nationalen Entwicklungsprogramm Itorero ry´Igihugu (Die Truppe der Nation), das 2012 landesweit eingeführt wurde, werden etwa vorkoloniale kriegerische Traditionen als Mittel zur Verwirklichung eines „neuen Ruandas“ und zur Moralisierung der Ruander wiederentdeckt und im Sinne einer Friedens- und Entwicklungskultur neu erfunden. Die Figur des Intore-Kriegers, welche früher auserwählte Tutsi-Elitekrieger am Hofe waren, wird hier zum Idealbild des neuen Menschen erhoben. Dies mag uns vor dem Hintergrund deutscher Geschichtserfahrung befremdlich erscheinen, muss aber im Kontext einer anderen Historie in Ruanda verstanden werden. In diesem Programm, das die gesamte Bevölkerung einbinden soll und eigene Strukturen parallel zu denen des Staates errichtet, steht die Figur des Intore-Kriegers für einen als anti-kolonialistisch interpretierten Kampf für eine bessere, friedvolle Zukunft und die Überwindung einer genozidalen Ideologie, deren Wurzeln in der Kolonialzeit gesehen werden.