Vergangenen Sommer diskutierte Europa die Frage, ob Menschen in Seenot an Land gebracht werden dürfen. Das klingt auf den ersten Blick absurd, denn was sollte dagegen sprechen, Schiffbrüchige nicht nur aus dem Meer zu retten, sondern sie in einem Hafen in Sicherheit zu bringen? Die italienischen Behörden verweigerten im Juni dem Boot Sea Watch 3, das rund 50 gerettete Flüchtlinge an Bord hatte, das Anlaufen der Insel Lampedusa und beriefen sich dabei auf geltendes italienisches Recht. Ein Fall von Moral kontra Recht? Wie steht es überhaupt um das Seerecht? So verstörend die Frage auch sein mag, aber gibt es in der Geschichte der Seefahrt eine Recht auf Seenotrettung? Wir haben diese Frage dem Historiker Prof. Dr. Jürgen Elwert von der Universität zu Köln gestellt, der sich bereits intensiv mit der Geschichte des Meeres beschäftigt und dazu publiziert hat. Ausgangspunkt ist für uns dabei ein Einblick in das Verhältnis von Europa und Meer seit den Anfängen.
"Die europäische Zivilisation ist eine maritime Zivilisation"
L.I.S.A.: Herr Professor Elvert, eines Ihrer Forschungsgebiete ist die Kulturgeschichte des Meeres und der Seefahrt. Im vergangenen Jahr erschien Ihr Buch „Europa, das Meer und die Welt: Eine maritime Geschichte der Neuzeit“. Die Beziehungen des Kontinents Europa zu das ihn umgebende Meer stehen immer wieder im öffentlichen und wissenschaftlichen Interesse – so sorgte beispielsweise Anfang der 1990er Jahre das Buch des französischen Historikers Michel Mollat du Jourdin „Europa und das Meer“ für Aufmerksamkeit. Ist Europa bei aller Landmasse vor allem ein maritimer Kontinent?
Prof. Elvert: Ganz klar ja! Dafür lässt sich eine ganze Reihe von Gründen anführen. Setzt man beispielsweise das Verhältnis von Landfläche in Beziehung zur Länge der Küstenlinien, dann ist Europa mit Abstand der maritimste aller Kontinente. Hinzu kommt ein vergleichsweise dichtes Netz von schiffbaren Flüssen, die das europäische Hinterland mit den europäischen Küsten verbinden. Die Meere sorgen zudem dafür, dass die klimatischen Einflüsse des Meeres in Europa größer sind als auf anderen Kontinenten – denken Sie beispielsweise an die Auswirkungen des Golfstroms auf unser Klima. Wenn es diesen Warmwasserstrom nicht gäbe, wären die klimatischen Bedingungen hierzulande völlig anders. Möglicherweise hätten wir in ganz Skandinavien bis nach Schleswig-Holstein Dauerfrostböden und Tundravegetation, mit ziemlicher Sicherheit würden im Süden Irlands und in Cornwall keine Palmen wachsen. Und in Andalusien und anderen Teilen Südspaniens mussten die Menschen gerade erleben, was es heißt, wenn Tiefdruckgebiete, die sich über dem Meer mit Wasser aufgeladen haben, dieses in kurzer Zeit in Form von heftigem Dauerregen wieder abgeben.
Neben den geographischen und meteorologischen Fakten gibt es aber auch eine Vielzahl von historischen und anderen kulturwissenschaftlichen Argumenten, die meine These stützen. Mein Bielefelder Kollege Raimund Schulz hat in seinem Buch über die Entdeckungsfahrten und das Weltwissen der Antike eindringlich gezeigt, welche Bedeutung das Meer für die Menschen in Europa schon in der Antike hatte. Er konnte zeigen, dass die Europäer schon in der Antike damit begannen, die Europa und Teile Asiens mit einem dichten Netz von maritimen Handels- und Verkehrswegen zu überziehen, das dem Transport von Menschen, Gütern und Informationen diente. Zudem erschlossen die antiken Seefahrer und Kaufleute auf ihren Fahrten die europäischen Küstenlinien und erkannten schon recht früh die eigentlichen Ausmaße unseres Kontinents. So wurden bereits in der Antike jene geografischen Kenntnisse erworben und nautische wie navigatorische Fertigkeiten entwickelt, die es den Europäern im 15. Jahrhundert ermöglichten, ihre überseeischen Entdeckungsfahrten durchzuführen. Infolgedessen überzogen die Europäer die Welt mit einem dichten Netz von maritimen Handels- und Verkehrswegen zum Transport von Menschen, Gütern und Informationen. Über dieses Netz wurden europäische rechtliche Normen und moralische Werte in alle Teile der Welt transferiert, was die weitere Entwicklung der davon betroffenen Regionen nachhaltig bis in die Gegenwart beeinflusste. So wurden Eroberungen in Übersee üblicherweise nach europäischem Vorbild gestaltet. Das betraf nicht nur die räumliche Ordnung der unterworfenen oder neu gegründeten Siedlungen und Städte, sondern bezog sich auch auf das geltende Recht und die christlich geprägten moralischen Maßstäbe, im Guten wie im Bösen. Umgekehrt wurden – ebenfalls über das Meer – Informationen, Güter und Menschen aus Übersee nach Europa oder in andere Teile der Welt verbracht. So sorgte der Import von Nutzpflanzen nicht nur für eine Veränderung der Ernährungs- und Konsumgewohnheiten in Europa, sondern auch für eine nachhaltig veränderte europäische Kulturlandschaft insgesamt. Man denke in diesem Zusammenhang beispielsweise an die verschiedenen Formen des Orientalismus als Modeerscheinung oder an die Entwicklung der europäischen Tee- und Kaffeehauskultur.
So gesehen, entdeckten die Europäer die Welt über das Meer, veränderten diese und veränderten sich dabei selber grundlegend. Insofern verstehe ich nicht nur Europa als einen maritimen Kontinent, sondern sehe die europäische Zivilisation in der Tat als eine maritime Zivilisation.