Autor: Thomas Will, Richter am Amtsgericht und Dezernent der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg
Die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen“ mit ihrem Sitz in Ludwigsburg wird meist „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen“ oder häufig und im Weiteren nur „Zentrale Stelle“ genannt.
Die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen
zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen
Copyright/Quelle: Bundesarchiv
Gründung und Aufgabe
Ihre Tätigkeit als gemeinschaftliche Vorermittlungsbehörde der deutschen Landesjustizverwaltungen hat die "Zentrale Stelle" am 1. Dezember 1958 aufgenommen. In den ersten Jahren war sie nur für außerhalb des Bundesgebiets und der eigentlichen Kriegshandlungen begangene nationalsozialistische Gewaltverbrechen zuständig, hierbei insbesondere auch solchen in Konzentrationslagern. Erst Mitte der 60er Jahre kam auch das damalige Bundesgebiet hinzu, so dass nun auch gegen ehemalige Angehörige der obersten Reichsbehörden, Parteidienststellen und inländischen Lager ermittelt werden konnte. Gleichzeitig waren nicht mehr nur nationalsozialistische Verbrechen gegenüber der Zivilbevölkerung zu verfolgen, sondern auch bestimmte Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen.
Seit Mai 1960 kann im Wesentlichen nur noch Mord gemäß § 211 StGB, also die besonders grausame oder heimtückische, aus Mordlust, niedrigen Beweggründen oder mit gemeingefährlichen Mitteln begangene Tötung eines Menschen, die im Gegensatz zum „bloßen“ Totschlag nicht verjährt ist, bestraft werden.
Die Gründe für die Einrichtung der Zentralen Stelle
Bis Mitte der 50er Jahre hatte zunächst der Eindruck bestanden, dass der Gesamtkomplex der Verfolgung von NS-Verbrechen im Wesentlichen bewältigt sei. Einer umfassenden Aufklärungsarbeit standen in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch außerdem nicht nur die materielle Not, der katastrophale Mangel an erfahrenen Arbeitskräften sowie an Raum und Material, die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen, das Fehlen zentraler Polizeiapparate und der Verlust von Millionen von Standesamts- und Meldeunterlagen entgegen, sondern auch die nachhaltige Beschränkung der deutschen Gerichtsbarkeit durch die alliierte Gesetzgebung. Hinzu kam, dass bei den Vernehmungen damals wegen auch fehlender Kenntnis organisatorischer Zusammenhänge meist keine so präzisen Vorhalte gemacht werden konnten, dass sich hieraus Hinweise auf Mitbeteiligung oder auf Befehle von Vorgesetzten ergaben. Das wohl größte Problem war jedoch die allgemeine Tendenz, einen Schlussstrich ziehen und über die Verbrechen schweigen zu wollen. Man sah in den ersten Nachkriegsjahrzehnten Hitler, Himmler, Goebbels, Goering und andere Führer als Haupttäter und Hauptbeschuldigte, die nachrangigen Personen lediglich als Gehilfen an. Dies hatte nicht nur juristische Folgen, sondern war geradezu Bedingung für den Schlussstrich.
Festgestellt werden muss auch die zuweilen fehlende Distanz in den mit ehemaligen Angehörigen der NSDAP, der Wehrmacht und der SS durchsetzten Strafverfolgungsorganen der frühen Bundesrepublik, ohne mit dieser Aussage dem ernsthaften Bemühen eines großen Teils der Amtsträger Unrecht tun zu wollen.
Unmittelbarer Anlass für die Errichtung der Zentralen Stelle war der sogenannte „Ulmer Einsatzkommando-Prozess“ gegen zehn ehemalige Angehörige des „Einsatzkommandos Tilsit“, die im August 1958 wegen der Beteiligung an Massenerschießungen, insbesondere von Juden, zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt worden waren. Im Rahmen dieses Verfahrens ergaben sich, insbesondere in den sogenannten „Ereignismeldungen“ der Sicherheitspolizei und des SD über die Tätigkeit der Einsatzgruppen und -kommandos, Hinweise auf weitere, nicht oder nicht ausreichend aufgeklärte ähnliche Komplexe in den vom ehemaligen Deutschen Reich besetzten Ländern. In gleicher Weise zeigte sich weiter, dass etwa auch die Massenverbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im ehemals besetzten Polen bis dahin noch nicht umfassend aufgearbeitet worden waren.
Offenbar wurde hierbei auch, dass die Zuständigkeitsordnung für Staatsanwaltschaften und Strafgerichte, die in erster Linie auf in deren Bezirk begangene Straftaten oder dort lebende Täter ausgerichtet ist, die nationalsozialistischen Verbrechen nicht in ihrer monströsen Komplexität erfassen konnte. Insbesondere bei den Massenverbrechen, die hauptsächlich außerhalb der deutschen Grenzen begangen worden waren, hing eine Verfolgung deshalb bis zur Gründung der Zentralen Stelle großenteils von Zufällen ab. Es bedurfte und bedarf zur Überbrückung dieser gravierenden Lücke in der Zuständigkeitsordnung einer im Vorfeld der Staatsanwaltschaften tätigen Behörde, die Vorermittlungen führt sowie die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen vorantreibt, bündelt und im Rahme der Amtshilfe unterstützt.
So begann erst mit der Gründung der Zentralen Stelle, die - über ihre institutionelle Bedeutung für die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und dem mit ihrer Arbeit verbundenen Prozess gesellschaftlicher Aufklärung hinaus - auch heute noch weltweit über einen guten Ruf verfügt, eine systematische Verfolgung der nationalsozialistischen Verbrechen und Verbrecher.
Die Arbeitsweise der Zentralen Stelle
Aufgabe der Zentralen Stelle ist es, das gesamte erreichbare ermittlungsrelevante Material über nationalsozialistische Verbrechen weltweit auszuwerten. Hauptziel ist es dabei, nach Ort, Zeit und Täterkreis begrenzte Tatkomplexe herauszuarbeiten und noch verfolgbare Beschuldigte festzustellen. Ist dies so weit wie möglich gelungen, ist die Vorermittlung beendet und leitet die Zentrale Stelle den Vorgang der zuständigen Staatsanwaltschaft zu, die bei Fehlen einer originären Zuständigkeit durch den Bundesgerichtshof bestimmt wird. Die Staatsanwaltschaft bearbeitet grundsätzlich den gesamten Verfahrenskomplex. Durch diese Arbeitsweise wird erreicht, dass die Staatsanwaltschaften nicht mehr wie bis 1958 lediglich Einzelermittlungen durchführen, sondern das Gesamtgeschehen, erforderlichenfalls in Teilkomplexe unterteilt, tendenziell umfassend und systematisch aufklären.
Seit langem kooperiert die Zentrale Stelle mit ausländischen Behörden, darunter solchen, die sich ebenfalls mit nationalsozialistischen Verbrechen befassen, wie die „Hauptkommission zur Verfolgung der Verbrechen gegen das polnische Volk“ sowie das „Office for Special Investigations“ (OSI) beim Justizministerium der USA. Darüber hinaus besteht ein reger Rechtshilfeverkehr mit italienischen Justizbehörden, vor allem den dortigen Militärstaatsanwaltschaften.
Seit dem Ende des Kalten Krieges werden auch im ehemaligen Ostblock lagernde Unterlagen gesichtet, darunter das umfangreiche „NS-Archiv“ des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR sowie Bestände im gesamten Osteuropa. Darüber hinaus erstreckt sich die Tätigkeit neuerdings auch auf Südamerika.
Besetzung
Zur Bewältigung ihrer Aufgabe sind der Zentralen Stelle Staatsanwälte und Richter zugewiesen, die mit ihrer jeweiligen Zustimmung aus den Bundesländern hierher abgeordnet werden. Insgesamt verfügt die Zentrale Stelle derzeit neben dem Behördenleiter im Dienstrang des Leitenden Oberstaatsanwalts regelmäßig über fünf bis sechs ermittelnde Dezernenten und zwölf weitere Bedienstete. Zur Zeit der größten Arbeitsbelastung zwischen 1967 und 1971, als jeweils gleichzeitig mehr als 600 Vorermittlungsverfahren zu bearbeiten waren, betrug der Personalbestand der Zentralen Stelle 121 Mitarbeiter, davon 49 Staatsanwälte und Richter.
Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv
Die Zentrale Stelle verfügt im Wesentlichen nur über Unterlagen zu Verfahren, die seit ihrer Gründung entweder bei ihr selbst oder aber bei einer bundesdeutschen Staatsanwaltschaft anhängig waren oder wurden. Die hier gesammelten Unterlagen geben einen weitgehend vollständigen Überblick über alle seit 1958 in der Bundesrepublik anhängig gewesenen oder gewordenen Verfahren wegen NS-Verbrechen, wie er anderweitig nicht zu erhalten ist. Soweit die Zentrale Stelle ein Verfahren nach Abschluss ihrer Vorermittlungen an die zuständige Staatsanwaltschaft abgibt, verbleibt ein Duplikat ihrer Vorermittlungsakte hier, das regelmäßig um die Ergebnisse des weiteren Verfahrens ergänzt wird, so dass aus der hiesigen Akte dann auch der weitere Gang des Verfahrens ersichtlich ist. Wird ein Ermittlungsverfahren unmittelbar bei einer Staatsanwaltschaft eingeleitet, soll die Zentrale Stelle ebenfalls Abdrucke oder Kopien erhalten, mit denen dann hier eine sog. Korrespondenzakte angelegt wird, so dass solche Verfahren ebenfalls regelmäßig hier dokumentiert werden.
Diese bis Ende 1999 entstandenen Ermittlungsvorgänge der Zentralen Stelle wie auch die Zentralkartei und die Dokumentensammlung wurden im April 2000 vom Bundesarchiv übernommen, das zu diesem Zweck am Sitz der Zentralen Stelle eine Außenstelle eingerichtet hat (Telefon 07141/899283, E-Mail ludwigsburg@barch.bund.de). Den Mitarbeitern der Zentralen Stelle steht jederzeit die vorrangige Nutzung des Archivguts zu.
Die Erteilung von Auskünften aus diesen über 800 laufenden Metern Archivgut wie auch die Betreuung von Benutzern, obliegt nunmehr grundsätzlich dem Bundesarchiv, zu dessen Aufgaben unter anderem auch Restauration, elektronische Erschließung sowie archivpädagogische Arbeit mit Schulklassen und Lehrerfortbildungen zählen.
Die Zentrale Stelle in Zahlen
Seit ihrer Gründung hat die Zentrale Stelle weit über 7.000 Vorermittlungsverfahren an Staatsanwaltschaften abgegeben. Insgesamt wurden seit 1958 fast 18.000 Verfahren wegen nationalsozialistischer Verbrechen bei Staatsanwaltschaften und Gerichten anhängig. Soweit sie nicht durch die Zentrale Stelle eingeleitet wurden, hingen diese doch zumeist mittelbar mit deren Tätigkeit zusammen.
Ein Datenbankprojekt des Instituts für Zeitgeschichte in München (vgl. Eichmüller, Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Heft 4/2008, Seite 621 ff.) führt auf, dass von 1945 bis 2005 gegen mehr als 172.000 Beschuldigte (davon entfallen über 120.000 auf die Zeit seit 1959) Ermittlungen geführt wurden. Hieraus wurden weiter 16.740 Personen angeklagt, von denen 6.656 verurteilt wurden, 1.147 hiervon wegen Tötungsdelikten. Zu berücksichtigen ist bei diesen Zahlen, dass ein Verfahren häufig mehrere Beschuldigte umfasste, auch oft in größerer Anzahl.
Hinzu kommen mit Stand Mitte der 60er Jahre über 5.000 Verurteilungen durch die drei westlichen Besatzungsmächte, über 12.000 Verurteilungen in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. ehemaligen DDR (wobei letztere rechtsstaatlichen Anforderungen häufig nicht genügten und es sich im Übrigen zu einem erheblichen Teil in Wirklichkeit um Entnazifizierungsverfahren handelte), zahlreiche Verurteilungen durch sowjetische Gerichte in der SBZ und späteren DDR sowie der UdSSR und mehr als 17.000 Verurteilungen in weiteren Ländern.
Die Zentrale Stelle hat ferner bislang über 113.000 Überprüfungs- und Rechtshilfevorgänge sowie Auskünfte bearbeitet. Die hauseigene Zentralkartei enthält ca. 1,68 Mio. Karteikarten, gegliedert in Personen, Tatorte und Einheiten, die gesonderte Dokumentensammlung mehr als 550.000 Kopien, deren Auffinden mit Hilfe von rund 160.000 Karteikarten, auf denen der Verbleib der Dokumente festgehalten ist, erfolgt.
Ausblick
Jedermann hat sich bis zum Ende seines Lebens, Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit vorausgesetzt, seiner strafrechtlichen Verantwortung für einen Mord zu stellen, dies gilt auch für NS-Täter. In diesem Rahmen bleibt die Verfolgung aber zugleich gesetzlich vorgeschrieben und ist weiterhin Grundlage des Fortbestehens der Zentralen Stelle. Für Angehörige oder Überlebende ist es zumeist von größter Wichtigkeit und für zukünftige Generationen Mahnung, dass derartige Taten konsequent bis zum Schluss verfolgt werden. Dies dient dem Rechtsfrieden und kennzeichnet den Rechtsstaat.
Die Zahl der anhängigen Vorermittlungen geht zwar mit zunehmendem Zeitabstand zum Zweiten Weltkrieg zurück. Die Zentrale Stelle wird ihre Tätigkeit jedoch fortsetzen, solange noch weitere Aufklärung möglich ist und dabei noch begründete Aussicht besteht, noch Täter zur Anklage zu bringen: dieser Zeitpunkt ist, wie gerade einige Gerichtsverfahren in jüngster Zeit zeigen, noch nicht erreicht.
Copyright/Quelle: Bundesarchiv