Die 1970er Jahre werden in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als Jahre einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation verstanden. Der Wandel Westdeutschlands umfasste zum einen sowohl die Strukturen des Staates als auch sein Selbstverständnis als Gestalter und Lenker politischer Prozesse. Zum anderen änderten sich auch die Koordinaten bzw. Wertvorstellungen in Kultur und Gesellschaft. Der Historiker Sebastian Müller nimmt in seinem aktuellen Buch einen dritten Aspekt in den Blickpunkt, ohne dabei die beiden anderen zu vernachlässigen: den wirtschaftspolitischen Wandel in der Bundesrepublik. Seiner These nach ist in den 1970er Jahren das Zeitalter des sogenannten Neoliberalismus angebrochen. Wie das genau zu verstehen ist, dazu haben wir ihm unsere Fragen gestellt.
"Eine nahezu konkurrenzlose Erzählung"
L.I.S.A.: Herr Müller, Sie haben ein Buch mit dem Titel „Der Anbruch des Neoliberalismus“ geschrieben. Bevor wir auf Einzelheiten eingehen, welche Vorüberlegungen haben Sie zu dieser Untersuchung geführt? Was war Ihre leitende Fragestellung?
Müller: Die Überlegungen, besser gesagt ein neuer Denkprozess, begannen für mich im Zuge der Agenda 2010-Reformen. Sie haben damals für mich persönlich als jungen politischen Menschen eine intellektuelle Zäsur bedeutet. Aus diesem Denkprozess entwickelte sich zwangsläufig die Frage, die auch mein Buch behandelt: Wieso und wann entstand in solch geballter medialer und politischer Macht eine nahezu konkurrenzlose Erzählung, die nicht nur den Wohlfahrtstaat in Frage stellt, sondern auch eine sozialdemokratische Partei in einer linken Regierung dazu bringt, diesen zu demontieren?
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Insgesamt ein sehr lesenwertes Buch, das mir viele Hinweise gegeben hat, um meine "Neoliberale Litanei" zu verfassen, die Jahrzehnte marktradikaler Agitation auf fünf Minuten komprimiert:
https://www.youtube.com/watch?v=X7mIx4MwA3M
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Friedrich August von Hayek "Die Verfassung der Freiheit (1960)" setzte für eine freie Gesellschaft die Dominanz einer Ordnung der ersten Art und abstrakter Regeln voraus. Er befürwortet demnach eine starke Einschränkung und präzise Definition staatlicher Handlungsmöglichkeiten durch die Verfassung, um die Rechte des Individuums zu schützen. Als wichtigste Begrenzung der staatlichen Zwangsausübung betrachtet er, dass diese nur nach allgemeinen Regeln erfolgt, nie jedoch willkürlich. Das Problem sei nicht, wer über wen herrsche, sondern wie viel Herrschaft die Herrschenden überhaupt ausüben dürfen. Reine Demokratie ohne Beschränkungen staatlichen Handelns lehnt er ab, weil diese ebenfalls zu Unterdrückung tendiere („totalitäre Demokratie“). Ein solches System schließt nicht aus, dass die Wirtschaftstätigkeit reguliert wird, wenn die Regulierung nach allgemeinen Regeln erfolgt. Hayek lehnt damit Laissez-faire ab. Bestimmte Eingriffe wie Preiskontrollen oder der Versuch, soziale Gleichheit herzustellen, seien mit einer freien Gesellschaft jedoch nicht vereinbar. Zu den Aufgaben des Staates gehören für Hayek, die Schaffung einer Rechtsordnung die Vertragsfreiheit, Eigentum und Haftung beinhaltet, die Bereitstellung öffentlicher Güter, Zertifizierungen und Informationen die der Sicherheit und Gesundheit dienen, die Erhebung von Steuern und die Sicherung eines Mindesteinkommens. Hayek plädierte für ein Mindesteinkommen „unter das niemand zu sinken brauche“ und das diese Mindestabsicherung eine selbstverständliche Pflicht einer freien Gesellschaft sei. Hayek empfand ausgesprochene Sympathie für die Leistungen von Ludwig Erhard bei der „Wiederherstellung einer freien Gesellschaft in Deutschland“, lehnte aber den Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ an sich ab. Die weitere Entwicklung in Deutschland ab Mitte der 1960er-Jahre hielt Hayek für zu interventionistisch und warnte anlässlich der deutschen Ausgabe "Des Wegs zur Knechtschaft 1971" vor sozialistischen Tendenzen in der deutschen Wirtschaftspolitik. Im Jahr 1981 erklärte Hayek, dass er kein Neoliberaler sei, sondern dass er die Grundsätze des klassischen Liberalismus weiterentwickeln wolle, ohne sie fundamental zu ändern.
„Die heute praktizierte Form der Demokratie ist zunehmend ein Synonym für den Prozess des Stimmenkaufs und für das Schmieren und Belohnen von unlauteren Sonderinteressen, ein Auktionssystem, in dem alle paar Jahre die Macht der Gesetzgebung denen anvertraut wird, die ihren Gefolgsleuten die größten Sondervorteile versprechen, ein durch das Erpressungs- und Korruptionssystem der Politik hervorgebrachtes System mit einer einzigen allmächtigen Versammlung, mit dem Wortfetisch Demokratie belegt.” -Friedrich August von Hayek "Die Anschauungen der Mehrheit und die zeitgenössische Demokratie" in ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Band 15/16 (1962)
Hayeks intellektueller Gegenspieler John Maynard Keynes - zu dem er ein freundschaftliches Verhältnis pflegte - lehnte sowohl die Geld- als auch Konjunkturlehre des Österreichers ab. Nach dem Erscheinen von "The Road to Serfdom 1944" schrieb er Hayek einen Brief, in dem er zwar die ökonomischen Theorien im Buch nochmals kritisierte, aber auch: „Moralisch und philosophisch finde ich mich in Übereinstimmung mit praktisch allem darin; und nicht nur in Übereinstimmung, sondern in einer tief bewegten Übereinstimmung.“
Milton Friedman zählte zu den Aufgaben des Staates, neben Recht und Ordnung aufrechtzuerhalten und Eigentumsrechte zu definieren, unter anderem auch die Förderung des Wettbewerbs, das Entgegenwirken technischer Monopole und externer Effekte und der Ergänzung privater Wohltätigkeit. In "Kapitalismus und Freiheit" formulierte Friedman seinen Vorschlag eines negative Einkommensteuer genannten Modells eines Grundeinkommens, um Armut zu lindern. Später übertrug er die ökonomische Analyse auf politische Szenarien und entwickelte daraus eine Theorie des Lobbyismus und der Einflüsse von Verbänden und Interessengruppen auf Parteien und Politik. Wie Hayek distanzierte sich Milton Friedman in späteren Publikationen vom Ausdruck Neoliberalismus und bezeichnete sich als Vertreter des klassischen Liberalismus („old-style liberalism“).
"Mit einigen rühmlichen Ausnahmen, sind Geschäftsleute für die freie Marktwirtschaft im allgemeinen, aber dagegen wenn es um sie selbst geht." -Milton Friedman "The Suicidal Impulse of the Business Community" (1983)
Vornehmlich in seiner ordoliberalen Ausprägung gilt der deutsche Neoliberalismus der 1930er und 1940er Jahre als eine wesentliche theoretische Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft, die allerdings mit größerem Pragmatismus insbesondere hinsichtlich der Konjunktur- und Sozialpolitik eigene Akzente setzte. Außerhalb Deutschlands wandten sich die Wirtschaftsliberalen wieder stärker dem Klassischen Liberalismus zu und sahen sich daher nicht (mehr) als Neoliberale. In den 1960er Jahren geriet der Begriff Neoliberalismus daher allgemein in Vergessenheit, seitdem gibt es keinen Kreis von Wissenschaftlern mehr, der sich selbst als neoliberal bezeichnet. In den 1970er Jahren wurde der Ausdruck Neoliberalismus wieder aufgegriffen und erfuhr einen Bedeutungswandel. Oppositionelle Wissenschaftler in Chile benutzten ihn mit negativer Konnotation und kritisierten damit die von Ideen der Chicagoer Schule beeinflussten radikalen Reformen durch die Chicago Boys. Von hier aus verbreitete sich die neue Wortbedeutung in die angelsächsische Welt. In den 1980er Jahren kam es zu einer Bedeutungsverschiebung des Begriffs Neoliberalismus, dieser wurde nun auch als politisches Schlagwort bzw. Kampfbegriff zur Abwertung der Gedankengebäude von Friedrich August von Hayek und Milton Friedman gebraucht. Heute wird der Begriff vorwiegend als pejorative Fremdbezeichnung von „Marktfundamentalismus“ verwendet.
https://de.wikipedia.org/wiki/Neoliberalismus
Nothing more to say.
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Man muss die Bedeutung der Deregulierung der Finanzsysteme für das neoliberale Regulationsregime verstehen. Diese ist faktisch etabliert worden, um das doppelte Defizit der USA zu finanzieren, das sich Ende der 1960er Jahre herausgebildet hat. Das beginnt mit der Kündigung von Bretton Woods. Und es wurde etabliert, um mit den Ölkrisen umgehen zu können. Vgl. Varoufakis: Globaler Minotaurus.
Deregulierung der Finanzmärkte, Steuersenkung und Abkopplung der Lohnentwicklung von der Produktivität sind Kernelemente. Man kann die Zeit von 1968 bis 1982 auch als Such- und dann als Reorganisationsphase beschreiben. Da erfolgte der Übergang von dem fordistischen Modell (mit Löhnen an Produktivität gekoppelt, Sozialstaat und streng regulierten Finanzmärkten) zum neoliberalen Finanzmarktkapitalismus.
Die Bundesrepublik hat den Übergang leicht verspätet vollzogen und auch unter Kohl/Genscher/ Lambsdorff nur schaumgebremst. Erst unter rot-grün sind Sozialabbau, Senkung der Spitzensteuersätze und eine weitreichende Entkopplung der Löhne von der Produktivität voll durchgesetzt worden. (Treppenwitz der Weltgeschichte!)
Grundsätzlich ist daher m.E. die Datierung von Sebastian Müller meines Erachtens korrekt.
Vgl. Busch/Land: Teilhabekapitalismus Abb. 1-14 S. 29. Dort sieht man die Umorientierung von etwa 1968 bis 1982, die neoliberale Lohndynamik seit 1982 und die Verstärkung 2004.
Siehe www.rla-texte.de.
Die PDF des Buches kann man in der Literatur für meine Studenten kostenlos finden: http://www.rla-texte.de/?page_id=416
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