L.I.S.A.: Viele Historiker bezeichnen Kontrafaktische Geschichte als sinnlos und vor allem unwissenschaftlich. Haben Sie unter Historikerkollegen einen entsprechend schweren Stand?
Brendel: Kontrafaktische Geschichte ist nicht mein Forschungsschwerpunkt, sondern nur eines meiner Interessengebiete. Womöglich habe ich deswegen noch keine negativen Erfahrungen mit Kollegen gemacht? Ich weiß es nicht. Nicht wenige Kollegen interessieren sich zudem durchaus für Kontrafaktische Geschichte. Manchmal sicherlich nur zur Unterhaltung, aber nicht selten auch fachlich.
Ich thematisiere in der Lehre regelmäßig die Möglichkeiten und Grenzen der Kontrafaktischen Geschichte. Geschichtsdidaktisch betrachte ich Rollenspiele als sinnvoll, in denen die Studenten die Rollen historischer Akteure einnehmen und ergebnisoffen Entscheidungsprozesse nachspielen. Im Übrigen habe ich die Erfahrung gemacht, dass das historische Interesse nicht weniger Studenten gerade durch populäre Werke der Kontrafaktischen Geschichte geweckt wurde. Oder durch Computerspiele mit historischem Hintergrund, die alternative Geschichtsverläufe thematisieren.
Kontrafaktische Geschichte ist meiner Ansicht kein „Geschichtswissenschlopf“, wie sie von Edward Thompson etwas übertrieben angefeindet wurde. Und sie ist sicherlich mehr als Edward Carrs „parlour game“. Jedoch wird sie von manchem Befürworter – beispielsweise Niall Ferguson – in ihrer Bedeutung und ihren Möglichkeit wohl überschätzt. In manchen Bereichen, bei bestimmten Fragestellungen und auch in der Didaktik können kontrafaktische Überlegungen hilfreich sein. Eines darf jedoch nicht vergessen werden: Dass kontrafaktischen Texte, wie jede andere Form historischer Darstellung, Konstruktionen sind, die tief in der Gegenwart des jeweiligen Verfassers verankert sind. So finden sich in der Kontrafaktischen Geschichte, wie in belletristischen Alternativgeschichtstexten, zu den gleichen Szenarien Utopien und Dystopien.
Die bislang gelungenste Einschätzung des wissenschaftlichen Potentials der Kontrafaktischen Geschichte legte 2006 der Psychologe Philip Tetlock vor. Dessen eigentlicher Forschungsschwerpunkt ist die – überraschend schwach ausgeprägte – Prognosefähigkeit politischer und ökonomischer „Experten“. Hier kommen also wieder die Zukunftserwartungen historischer Akteuren ins Spiel, Martins „vergangene Zukünfte“.
Mehrere Arbeiten zeigen bereits, dass der wissenschaftliche Ertrag der Kontrafaktischen Geschichtsschreibung sowie der Wert fachwissenschaftlicher und populärer Alternativgeschichtstexte als Quelle historischer Forschung nicht mehr unterschätzt wird. Man kann mit gutem Recht andere Forschungsfelder als wichtiger und fruchtbarer erachten, aber Ressentiments sind fehl am Platze. Und in der Tat scheinen die Berührungsängste abzunehmen.
Reaktionen auf den Beitrag
Kommentar