L.I.S.A.: Kann das Internet mehr sein als eine weitere Abspielplattform für die Popularisierung von Geschichte? Bietet sich das Netz auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte an? Welche Erfahrungen machen Sie mit Ihrer Arbeit?
Sachers: Es gibt ja bereits gute Ansätze und Projekte, das Internet für historische Forschungen zu nutzen, auch unter Stichworten wie cloud computing, crowdsourcing etc. Da entstehen zum Beispiel Datenbanken und Materialsammlungen, da bieten sich auch ganz neue Möglichkeiten, eine interessierte Öffentlichkeit ganz konkret zum Beispiel in die Erfassung, Digitalisierung und Auswertung von Beständen einzubinden. Zur Darstellung und Vermittlung von Forschung und Wissenschaft, zum Austausch von Informationen, Meinungen und Gedanken, sowohl innerhalb der internationalen Historikergemeinde als auch nach außen, für den Zugang zu Quellen und wissenschaftlichen Forschungsergebnissen oder auch -projekten ist das Internet hervorragend geeignet. Mit Verlinkungen, der Einbindung von Bildern, Videos, Audiodateien, dem unmittelbaren Zugriff auf digitalisierte Quellen und vielem mehr bietet das Internet oder genauer das World Wide Web Möglichkeiten der Interaktion und der individualisierten Erfahrung, die andere Medien nicht leisten können. Hinzu kommen Diskussionen, die aktive Beteiligung, der unmittelbare Informations- und Erfahrungsaustausch, wenn Sie an Foren oder Kommentarfunktionen auf Blogs und anderen Seiten denken.
Das Internet kann vieles zugleich sein – Bibliothek, Archiv, Museum, Diskussionsraum, vielleicht sogar Klassenzimmer und Hörsaal. Doch wenn es mehr sein soll als eine „Abspielplattform für die Popularisierung von Geschichte“, wie Sie sagen, dann müssen die entsprechenden Inhalte bereit gestellt werden. Das heißt zum Beispiel, Archivmaterial, Handschriftenbestände, Kunstwerke, der gesamte Bereich der historischen Quellen in öffentlicher Hand müsste frei und öffentlich zugänglich gemacht werden – da hinkt Deutschland im Vergleich zu Ländern wie Großbritannien oder den USA noch deutlich hinterher. Die Ergebnisse von mit öffentlichen Geldern finanzierter Forschung gehören meiner Ansicht nach ebenfalls ins Internet, wie auch immer man sie dann im Einzelnen zugänglich macht, darüber gibt es ja momentan durchaus eine Debatte.
Der unmittelbare Vergleich von Forschungsergebnissen, der Austausch mit Kollegen aus aller Welt, auch öffentliche Wahrnehmung und Diskussion sind nirgends so einfach zu realisieren wie im Internet. Doch die Voraussetzung dafür, dieses Medium zu einem Ort wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Geschichte zu machen, sind der Wille und das Engagement der Beteiligten, der Institutionen wie Archive, Museen, Bibliotheken oder Fakultäten ebenso wie des einzelnen Historikers oder der Historikerin. Und letztlich natürlich auch der politische Wille, die Bereitschaft entsprechender Stellen, solche Maßnahmen zu finanzieren. die Entwicklung und Bereitstellung der erforderlichen Infrastruktur zu fördern.
In meiner persönlichen Erfahrungen ist das Internet zunächst einmal ein Segen, ohne den ich gar nicht wüsste, was ich anfangen sollte. Internetanwendungen umfassen ja etwa auch E-Mails, über die ein Großteil meiner gesamten Kommunikation abläuft, oder zum Beispiel Chat-Programme wie Skype. Die ermöglichen es mir, mit Kollegen irgendwo in Deutschland, aber auch in England, in Norwegen in Kontakt zu bleiben, schnell Informationen oder auch Dokumente auszutauschen etc. Ich schätze auch das WWW und das sogenannte Web2.0 sehr, um mich zu vernetzen, zu informieren, mich an Diskussionen zu beteiligen, mal schnell etwas nachzuschlagen und vieles mehr.
Was das eigentliche wissenschaftliche Arbeiten betrifft, so sehe ich Licht und Schatten, ein ungeheures Potential, wie angedeutet, aber auch die derzeitigen Defizite. Wir stehen sicherlich erst am Anfang, und die Entwicklung scheint noch recht langsam voran zu gehen. Ich schätze zum Beispiel den Online-Zugriff auf bestimmte Archivbestände, der vieles erleichtern kann, aber der Umfang ist eben noch sehr begrenzt und das Verfahren nicht immer sehr benutzerfreundlich. Aber immerhin gibt es Fortschritte. Vor zwei oder drei Jahren wollte ich mal eine Akte einsehen, aber sie war online nicht verfügbar. Also schrieb ich eine E-Mail an das betreffende Archiv, erhielt aber keine Antwort. Bei meinem Anruf verwies man mich auf die Website, wo sich ein Formular herunterladen ließ, das ich ausdrucken, von Hand ausfüllen und per Fax zurück schicken musste, um zwei Wochen später eine Fotokopie der Akte zusammen mit einer Rechnung über Bearbeitungsgebühr und Porto zugeschickt zu bekommen. Wie viel einfacher, schneller und kostengünstiger wäre es für alle Beteiligten gewesen, hätte ich gleich am Bildschirm erkennen können, dass das Dokument nicht die erhofften Informationen enthielt!
In meinem beruflichen Alltag ist das Internet daher eher Kommunikationsmittel als wissenschaftliches Arbeitsinstrument. Es wird die gedruckten Bücher und Zeitschriften, die Arbeit in Bibliotheken, Archiven und Museen nicht so bald ersetzen, aber zunehmend ergänzen. Vielleicht entstehen dabei auch ganz neue Formen wissenschaftlichen (Zusammen-) Arbeitens, die ich mir heute noch gar nicht vorstellen kann. Die Voraussetzung wird aber sein, dass Historiker jedweder Couleur, Institutionen und letztlich jede/r, der/die mit Geschichte zu tun oder ein Interesse an ihr hat, sich bei diesem Prozess einbringen, dass das Thema „Geschichte und Internet“ öffentlich und breitflächig diskutiert wird und dass das Angebot vielfältig, ansprechend sowie für alle frei und offen zugänglich sein wird.