L.I.S.A.: Sie schreiben, dass sich die Zeit nach der Jahrtausendwende vor allem durch ambivalente Entwicklungen definiert. Welche Prozesse sind es, die die diese Ambivalenz bestimmen?
Dr. Hüttermann: Ich beobachte zurzeit zwei Trends, von denen nicht abzusehen ist, welcher sich langfristig durchsetzt oder ob sie gar im Sinne eines stabilen Nebeneinander fortbestehen werden.
Auf der einen Seite erkenne ich einen Trend zu einem sich zuspitzenden Rangordnungskonflikt zwischen sich als angestammt verstehenden Bürgern und Zugewanderten: Folgt man meiner figurationssoziologischen Konfliktanalyse, so ergibt sich das hier sehr grob gezeichnete Bild einer Gesellschaft, in der ehedem etablierte machtüberlegene Platzanweiser aus den Zeiten der so genannten Gastarbeitermigration dadurch verunsichert sind. Das Problem: Die ehemaligen randständigen, peripheren Fremden treten ihnen nunmehr als selbstbewusste Akteure gegenüber. Aus den vermeintlichen Gästen der vermeintlichen Gastgeber, aus den stummen unbeholfenen »Mandanten« der wohlmeinenden »Anwälte« und aus den Mündeln der Paternalisten sind Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, Mitbürger und Mitbürgerinnen und schließlich Anspruchsbürger geworden. Sie wollen auf gleicher Augenhöhe agieren. Sie nehmen mehr und mehr von ihrem Recht auf Teilhabe am öffentlichen Interessenstreit Kenntnis und machen davon auch Gebrauch. Sie wollen nicht länger in der Dankbarkeit des Gastes oder der Sprachlosigkeit des Mandanten wohlmeinender Kümmerer und Anwälte leben. Auf der anderen Seite ist es für Alteingesessene oft ein schmerzhafter Prozess, wenn sie spüren, dass ihre in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren selbstverständlich geltende, eingelebte Vorrangstellung und Machtüberlegenheit und schließlich sogar ihre moralische Führungsrolle nun in Frage steht. So waren und sind beispielsweise manche ehemalige Vorarbeiter aus Industrie und Bergbau schockiert, dass die Miete nunmehr an einen ehemaligen Türkeistämmigen Untergebenen überweisen müssen. Ähnliches gilt für den Gewerkschaftsfunktionär, der erleben muss, dass ein ungelernter Metallarbeiter ihm in der Nachbarschaft als Vorsitzender eines Moscheevereins gegenübertritt, der den Bau einer repräsentativen Moschee betreibt. Und noch schockierender scheint zu sein, dass die „avancierenden Fremden“ sich mit ihren Ansprüchen auf das moderne universalistische Recht oder die nicht minder universalistischen Prinzipien des kapitalistischen Marktes bzw. der Leistungsgesellschaft berufen. So entsteht auf vielen Interaktionsfeldern ein Rangordnungskonflikt zwischen insbesondere als Muslime identifizierten Menschengruppen und Alteingesessenen. In dem Maße, wie sich der Konflikt zuspitzt, verhärten sich auf beiden Seiten die Identitäten. Beide Akteursgruppen verstehen sich im Rangordnungskonflikt zunehmend als Kultursubjekte, also als Menschen, die vermeintlich inkompatiblen Kulturböden entstammen und eherne Werte verkörpern und propagieren. Da ist einerseits die Kategorie des „muslimischen Kultursubjekts“, das auf dem ihm vermeintlich schlecht bekommenden christlich-jüdisch-abendländischen Kulturboden gar nicht anders kann, als sich in immer neue Konflikte mit seinem scheinbar wesensfremden Gegenüber zu verstricken. Da ist andererseits das abendländisch-säkularisierte Kultursubjekt. In seiner Welt ist für den Islam nur insofern Platz, als er die Funktion einer Kontrastfolie ausfüllt. Das abendländische Kultursubjekt deutet Begegnungen und Konflikte der Alteingesessenen mit den Kindern und Kindeskindern jener Arbeitsmigrant_innen, die einst aus islamisch geprägten Herkunftsländern eingewandert sind, vor dem Hintergrund der Unverträglichkeit differenter Kulturkreise. Auf beiden Seiten gilt: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ Gäbe es keine Gegentrends, so bestünde die Gefahr, dass sich ein kulturalistisch verbrämtes Apartheidssystem entwickelt.
Aber es gibt Gegentrends: Hier gilt Hölderlins Satz: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. So zum Beispiel im Falle von Moscheekonflikten. In den Städten der deutschen Einwanderungsgesellschaft, wo vermeintliche Kulturkonflikte konkret ausgetragen werden, ist es fast nie zu gewaltsamen Eskalationen von Konflikten um repräsentative Moscheen gekommen. Solcherart Konflikte um religiöse Symbole verlaufen weitestgehend friedlich und viele der Kontrahenten haben sich in diesen Konflikten erst kennen und in einem basalen Sinne auch schätzen gelernt. Genauso wichtig für das gedeihliche Miteinander sind neue Konfliktthemen, welche die sozialen Verwerfungen überbrücken. Im Zuge neu entstehender Konfliktlinien- und Konfliktkonstellationen, die quer bzw. über einem ethnisierten lebensweltlichen Grenzregime stehen, werden vielerorts aus ehemaligen Konfliktgegnern und einander kulturell entfremdeten Nachbarn neue Bündnisgenossen und aus ehemaligen Bündnisgenossen wiederum neue Konfliktgegner. So engagieren sich beispielsweise, wie ich selbst in einer Stadt beobachten konnte durfte, konservative Muslime und linke Kapitalismuskritiker gemeinsam gegen Investitionsvorhaben, weil sie die Sorge haben, dass das nachbarschaftliche Zusammenleben durch sie beschädigt werden könnte. Zudem gehören auch alltagsweltliche beiläufig wirkende Integrationsmechanismen zu diesem Gegentrend. Ihre Wirkungsweise ist aufgrund der Leviathan-Perspektive in der Migrationssoziologie (nämlich vom „Kopf“ nach unten, zu den „Füßen“ schauend) nicht zureichend gewürdigt worden. Von der strukturbildenden Funktion jener Freundschaften, die über Gruppengrenzen geschlossen und gepflegt werden, war schon die Rede. Man sollte u. a. aber auch die Vorbildfunktion vieler lokaler und translokaler Akteure mit Charisma und Charme anführen. Durch die Strahlkraft ihrer Person, durch ihr Tun und/oder zusätzlich durch ihre beispielgebenden biographischen Grenzgänge depotenzieren sie die symbolischen Grenzziehungen und entkräften die symbolische Gewalt des Stigmas. Und noch etwas gehört in diese Reihe: Gegenwärtig verstetigt sich in sogenannten Szenestadtteilen, die von ihren BewohnerInnen oft als Kiez beschrieben werden, eine bestimmte Art öffentlich gepflegter Geselligkeit. Im Moment ihrer Manifestation, werden ethnische und andere Schranken durch Marktgesetze und vor allem durch gesellige Konversation suspendiert. Dies kann zunächst vorübergehend und dann vielleicht auch langfristig zur Revision der Grenzen zwischen den migrationsbezogenen Gruppen in urbanen Räumen führen.