Zur Dokumentation jeder Grabung gehören neben den schriftlichen Aufzeichnungen oft zahlreiche Zeichnungen von den Schnitten der Grabung. Die archivierten Zeichnungen selbst sind oft nicht publikationsreif, da es sich zunächst nur um Arbeitsmaterial handelt. Im Falle des von mir bearbeiteten Dionysosheiligtums in Milet liegt eine verhältnismäßig große Anzahl von – unter anderem – 24 einzelnen Profilzeichnungen in Bleistift auf stabiler Pappe vor, die Wolfgang Müller-Wiener während der Grabung selbst angefertigt hat. Wenige dieser Zeichnungen hatte er bereits für die Publikation vorbereitet und auf schwerem Transparentpapier mit Tusche in eine bedeutend ordentlichere Form übertragen. Das Ergebnis der manuellen Umzeichnung ist 1979 auch in seinem zweiten Vorbericht über die Grabung erschienen[1].
A little suffering is good for the soul
Teil 3 | Digitale Verarbeitung von Zeichnungen und anderem Bildmaterial
Die Anfertigung solcher Tuschezeichnungen erfordert zeichnerisches Geschick, ruhige Hand und einen gehobenen Sinn für Ordentlichkeit und Konzentration. Kaffeeflecken und Fingerschmieren, wie sie meine Person schon auf so manchem Befundzettel hinterlassen hat, oder auch nur die Neigung zu hastiger Strichführung sind ein No-Go bei der Herstellung und können schnell die Arbeit von Stunden ruinieren. Ich argwöhne, dass die Geduld und Hingabe alles beim ersten Versuch richtig zu machen (m)einer Generation von Strg+Z
-Verwöhnten vielleicht irgendwo auf dem Weg durch die Wirren von Pfaden und Ebenen einschlägiger Bildbearbeitungsprogramme abhanden gekommen sein könnte. Für mich kam es allein aus diesem Grund auf keinen Fall in Frage auch nur den Versuch zu wagen Müller-Wieners Kunstfertigkeit zu kopieren.
Ein nächster Punkt ist wohl die Frage der Publikation, die ich für mich selbst noch nicht geklärt habe. Allerdings schwebt in meinem Hinterkopf die Idee, dass der aus einer gewissenhaft angefertigten Tuschezeichnung resultierende Abdruck auf einem großen Faltblatt zwar ästhetisch ansprechend ist, aber nicht unbedingt mein Mittel der Wahl sein sollte. Im Zeitalter allgegenwärtiger Technologie lässt sich die Archivierung und Veröffentlichung von solchen großformatigen Zeichnungen vielleicht – hoffentlich – auch anders bewältigen.
Mein erster Instinkt war also, dass ich die zahlreichen Bleistiftzeichnungen lieber direkt in eine digitale Form überführen sollte, die über das bloße (aber immer noch nötige) Scannen hinausgeht.
Fleet Admiral Brackett: „Computer, enhance image in section four delta.“ - Das zunächst sehr unscharfe Bild, auf dem eben noch nichts als Schemen zu erkennen waren, zeigt beim Zoom plötzlich sehr deutlich Spocks Gesicht.[2]
„Computer, enhance!“ rief ich also meiner altvertrauten Rechenmaschine zu und siehe – es ist natürlich nichts passiert. Zum einen, weil ich kein Spracherkennungsprogramm benutze und zum anderen, weil die Verarbeitung und Verbesserung von Scans – sei es von Fotos oder Zeichnungen – kaum etwas ist, das sich mit einem einzigen Klick oder Befehl erledigen lässt – geschweige denn mit einer so vagen Anweisung wie ‚enhance‘. Hinter der eigentlich simplen Idee von Bildverbesserung stecken sehr viel mehr Grundannahmen, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Als Menschen haben wir alle ein sehr intuitives Verständnis davon, was im Falle eines Bildes als besser zu verstehen ist, das ein Computer (außer vielleicht ein übermächtiger, fiktiver Sternenflottencomputer?) nicht teilen kann. Hinzu kommen technische Restriktionen verschiedenster Art.
Pixel bleiben Pixel
Egal wie sehr man es möchte, oder man als Mensch in der Lage ist sich den fehlenden Bildinhalt des Fotos vorzustellen oder die Linienführung in der Zeichnung zu extrapolieren: Ein Millimeter auf dem Papier ist immer nur ein Millimeter, ein Pixel ist immer nur ein einzelner Bildpunkt mit einer einzelnen Farbe, und auch analoge Kleinbildfilme, die potenziell eine sehr viel höhere Auflösung bieten können als moderne Digitalkameras, stoßen irgendwann an ihre Grenzen – und so tun es natürlich auch die ohnehin weniger kleinteiligen Linien einer Bleistiftzeichnung. Wenn der Computer es also nicht tun wird, was versteht man dann wenigsten als Mensch unter der ‚Verbesserung‘ eines Bildes? Die Antwort unterscheidet sich natürlich erheblich, je nachdem ob man beispielsweise über Fotos oder Zeichnungen nachdenkt. Für die Nachbearbeitung von Fotografien bietet das durchschnittliche Bildbearbeitungsprogramm auch tatsächlich diverse Enhance-Buttons unterschiedlicher Komplexitätsstufen, mit denen sich Unschärfe, Kontrastmangel, unerwünschte Belichtung, Kratzer auf dem Original und Bildrauschen ausgleichen lassen (siehe Beispielfoto oben, das Ergebnis weniger Minuten). An die magisch anmutenden Fähigkeiten des Enterprise-Computers kommen aber auch die Produkte namhafter Softwarehersteller nicht heran. Für die Aufbereitung von Bleistiftzeichnungen sind allerdings ganz andere Dinge wichtig.
Für eine flexible Weiterverwendung der Zeichnungen und um sie leicht in jedem denkbaren Größenmaßstab abbilden zu können, sollten sie im besten Fall als Vektorgrafiken umgesetzt werden. Ein herkömmlicher Scan liefert zunächst nur eine Rastergrafik, also ein Bild bspw. im Format .tif(f), .png oder .jp(e)g, das aus einzelnen Pixeln besteht. Eine Vektorgrafik jedoch beruht nicht auf der Farbgebung und Anordnung einzelner Pixel, sondern ist aus geometrischen Figuren, Linien und Kurven und ihren jeweiligen Parametern zusammengesetzt. Dies führt dazu, dass die Grafik – beliebte Formate sind .svg oder .eps – grenzenlos skalierbar ist, ohne jemals unscharf zu werden.
Handarbeit
Technische Zeichnungen jeder Art eignen sich besonders für die Umsetzung als Vektorgrafik, da sie überwiegend aus Linien oder Symbolen bestehen. Der Scan einer Profilzeichnung lässt sich mit etwas Zeitaufwand in verschiedenen Programmen manuell zu einer Vektorgrafik umzeichnen. Auch wenn es bereits Tools zur automatischen Digitalisierung gibt, sind die Ergebnisse oft weder erwartet noch erwünscht. Um ein weiteres vollkommen unnötiges Zitat eines bekannten, fiktiven Sternenflottenkapitäns zu verwenden: „...switch to manual override, and above all, don't be afraid.“[3]
Die erste Frage, die man sich vor der Aktivierung des manual override – bzw. dem mühsamen Nachzeichnen vieler, vieler Linien – unbedingt stellen sollte, lautet: Was erhofft man sich von den Zeichnungen?
Das Bauchgefühl sagt schnell und gerne, dass sie gut aussehen sollen. Im Idealfall kann man die Zeichnung auf einen Blick verstehen. Also sind verschiedene Linientypen und Strichstärken, vielleicht sogar Farben, angebracht, um die unterschiedliche Dinge (z.B. Steine oder Grabungsgrenzen) auch unterschiedlich darstellen zu können. Am besten legt man sich hierfür bereits bei oder vor der ersten Zeichnung eine verbindliche Legende an, die sich in den gängigen Softwarelösungen in der Regel in Form von Stilen permanent festhalten lässt. Diese Vorgaben zu verwenden ist extrem hilfreich und sinnvoll, da somit eine konsequente Darstellungsweise über alle Zeichnungen hinweg gesichert ist. Damit sie leicht verständlich sind müssen sie aber auch übersichtlich sein, und dies ist gerade bei großen Zeichnungen besonders wichtig. Also darf es auch nicht zu viele verschiedene optisch unterschiedliche Merkmale geben. Da nicht klar ist, wie sie am Ende veröffentlicht oder verwendet werden, sollte das Format möglichst flexibel sein. Also muss der Abbildungsmaßstab anpassbar sein, ohne dabei Informationen zu verlieren. Für eine größtmögliche Übersicht während der Arbeit selbst und Flexibilität der Darstellung nach der Fertigstellung ist es unter Umständen wichtig, gewisse Elemente schnell und gruppiert ein- und ausblenden zu können. So lässt sich dann bspw. schnell eine Version mit oder ohne Beschriftungen herstellen. Am einfachsten ist dies zu realisieren, wenn man direkt zu Beginn eine für jede Zeichnung gültige Ebenenstruktur festlegt, sodass bspw. Konturen auf einer Ebene sind, feine Details auf einer weiteren und Legenden und andere Beschriftungen ebenfalls auf ihrer eigenen Ebene. So sind alle semantisch abgrenzbaren Bereiche in ihrer eigenen Ordnung ein- oder auszublenden. Und bei allem dürfen wir nicht vergessen: Selbstverständlich muss das Endergebnis so originalgetreu sein wie irgend möglich. Es ist also sehr wichtig, sich bereits vor Beginn der Arbeit einen ordentlichen plan of action zurechtzulegen.
Mister Spock, you and I have some serious thinking to do. When we leave here tomorrow morning, I want to have a plan of action. [4]
Und diese anfängliche Planung ist in der Tat viel wichtiger, als das Werkzeug mit dem man zum Ziel gelangt. Welches Programm man benutzt ist eher eine Geschmacksfrage – oder auch eine finanzielle. Viele entscheiden sich sicherlich für die Produkte des bekanntesten Bildbearbeitungssoftwareherstellers, aber es gibt viele OpenSource-Lösungen, oder andere kostenlose oder wenigstens -günstige Alternativen. Die bekannteste Variante dürfte sicher Inkscape sein, eine freie Software, die für alle herkömmlichen Betriebssysteme verfügbar ist. Inkscape deckt den Funktionsumfang, der für die Bearbeitung archäologischer Zeichnungen nötig ist, hervorragend ab.
Diese Reihe enthält noch einen weiteren Beitrag, in dem ich mich vor allem auf die Weiterverwendung der erstellten Zeichnungen in CAD-Programmen beziehen werde.
A little suffering is good for the soul – Die Aufarbeitung von ‚Altgrabungen‘
In der Artikelreihe 'A little suffering is good for the soul' werden Methoden und Möglichkeiten zur Aufarbeitung von Altgrabungen vorgestellt. Bei allen Beispielen beziehe ich mich auf meine eigene Arbeit zum Dionysosheiligtum von Milet, die die Aufarbeitung der Ausgrabungen durch den 1991 verstorbenen Bauforscher Wolfgang Müller-Wiener umfasst. Mein Dissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Ein Heiligtum des Dionysos in der Sakrallandschaft von Milet“ wird seit 2018 von der Gerda Henkel Stiftung gefördert.