Zum Corpskommando, das in Rzeczyca auf einem grösseren Gute liegt. Schon im kaiserlichen Wildpark vor Rzeczyca hörte man aus einer Entfernung von 15 bis 20 Kilometern heftige Kanonenschläge. Ein grösseres Gefecht war offenbar im Gange. Der alte Woyrsch gieng, als ich ankam, im Garten des Schlosses spazieren und unterhielt sich mit dem Chef seines Stabes, einem Oberstleutnant Kundt. Sie warteten auf Nachrichten vom Fortgang der Schlacht. Ich machte meine Meldung und brachte meine Bitte vor, bald wieder zu meinem eigenen Corps zurückzukommen. Inzwischen kam Tönnchen Zedlitz heran, der bei Woyrsch Ordonnanz Offizier ist, und lud mich ein, zum Abend zu bleiben, falls das Corpskommando in Rzeczyca bliebe. Alles war zum Fortfahren nach einer rückwärtigen Stellung schon auf die Wagen gepackt. Man wartete aber den Ausgang des Gefechtes ab. Woyrsch gieng hinauf in sein Zimmer, um seinen Mittagsschlaf zu halten, Alles musste auf Fussspitzen gehen. Ich setzte mich mit Zedlitz und einem österreichischen Major, der beim Corps Verbindungs Offizier ist, in ein Wohnzimmer; der Chef nebenan am Telephon. Wir hörten abwechselnd das Telephongespräch und den Kanonendonner. Nach einer halben Stunde kam ein Generalstabshauptmann vom Chef zu Zedlitz, man könne die notwendigsten Sachen von den Wagen wieder herunternehmen, das Corps bleibe wahrscheinlich hier. Dann trafen allmählich immer bessere Nachrichten ein, die wir am Telephon überhörten zuerst dass der Angriff des Feindes von der 4ten Division zum Stehen gebracht sei, dann dass die Dritte Division (der rechte Flügel des Corps) vorgehe. Die Meldung wurde Woyrsch gebracht, der herunterkam. Das Gepäck wurde von den Wagen heruntergeholt, das Essen in Gang gebracht. Da kam (wir hörten den ganzen Fortgang des Gefechtes durch die Telephongespräche des Chefs im Nebenzimmer) die telephonische Nachricht, dass die 37te Division, die im Anschluss an den rechten Flügel unseres Corps kämpft, ihre Stellung bei Nowe Miasto an der Pilica heute Nacht räumen wolle und zurückgehe. Kundt bat telephonisch, sie möchte doch bis morgen zum Dunkelwerden ausharren, da sonst unsere siegreich vorgegangene dritte Division ganz in der Luft hienge und ohne ihre Schuld in eine gefährliche Lage geraten würde. Nach einigem Hin u Her versprach die 37te Division, bis morgen Abend ihre Stellung zu halten. Gleich darauf kam Bernhard Stolberg von der Front zurück und brachte die Bestätigung, dass Alles gut stehe und morgen, da Verstärkungen anrückten, noch besser stehen werde. Die Russen hätten ein fünf Kilometer breites Loch in unserer Front bei Rawa nicht bemerkt und wären infolgedessen nicht durchgestossen, sondern gegen eine starke Stellung südlich abgeschwenkt, angerannt, und von dort abgewiesen worden. Die Sorge, die das Loch bei Rawa den ganzen Tag gemacht hatte, war infolgedessen geschwunden. Wir kämpfen, wie von jeher hier im Osten, mit viel zu schwachen Kräften gegen einen stark überlegenen Feind; dabei kommt Alles auf Bluff hinaus. Glücklicherweise lassen die Russen sich verbluffen und an der Nase herum führen, sonst wären sie längst in Berlin. Wir halten sie so lange auf wie möglich, gehen dann etwas zurück und hoffen, den Moment zu erreichen, wo Verstärkungen aus dem Westen eintreffen, bis dahin ist hier Alles ein auf Frechheit und Glück gestelltes Abenteuer. Vom A.O.K. brachte Stolberg den Befehl mit, auf eine etwas zurückliegende Linie zurückzugehen. Spät Abends, auf die Meldung vom glücklichen Kampf der 3ten Division, wurde jedoch dieser Befehl dahin geändert, das Corps hätte die Erlaubnis weiterhin den Kampf in dieser Linie fortzusetzen. Vielleicht gelingt es noch einmal, und die Russen lassen sich wieder von der Minderzahl zurückwerfen. – Der österr. Major, der Adjutant des Erzherzogs Franz Ferdinand und bei dessen Ermordung und Tod zugegen war, erzählte, wie unmöglich ein Entrinnen bei der weiten Verzweigung der Verschwörung gewesen wäre. Er sagt, deutsche Hilfstruppen aus Frankreich seien hier in Russland für den 36ten Mobilmachungstag versprochen gewesen; jetzt hätten wir bald den 90ten; und die Entscheidung in Frankreich sei noch immer nicht gefallen. Die grossen Überraschungen dieses Krieges seien Italien, Rumänien u Japan gewesen; das habe man nicht erwartet, dass Italien u Rumänien neutral bleiben und Japan mit Russland gemeinsam gegen uns Krieg führen würde. Aus diesem Gespräch gieng hervor, dass Österreich, abgesehen von Belgrad u. einer kleinen strategischen Grenzberichtigung bei Krakau, keinen Landerwerb aus diesem Kriege wünscht; sie hätten schon genug fremde Völker in Österreich, dessen Bestand doch auf der Vorherrschaft der Deutschen beruhe.
24. Oct. 1914 Sonnabend. Spala
Tagebucheintrag Harry Graf Kessler
Department of Military Art and Engineering, at the U.S. Military Academy (West Point), CC-PD-Mark (Wikimedia Commons)