Aufgewachsen in Brandenburg während der Baseballschlägerjahre und inzwischen in Berlin und Jerusalem zuhause. Ansonsten ein bewegtes Leben zwischen Polen, Verbandsarbeit, Studium und einer gehörigen Dosis Straßenpolitik. Promoviert mit einem Buch, das „Gemeinsam gegen Deutschland“ heißt, in Berkeley einst Gewerkschaftsvorsitzende und derzeit als Postdoc und Lecturer an der Hebrew University of Jerusalem. Bisherige #IchBinHanna Erfahrung: Befristete Stellen wechseln sich mit befristeten Stipendien ab. Forscht aktuell u. a. zur Globalgeschichte jüdischer Holocaustüberlebender aus Osteuropa und ihrer Selbstorganisation in Heimatvereinen, sogenannten landsmanshaftn. Mitbegründerin des Zinefest Berlin, Street Artist emerita, Bücherwurm und Töpferin im Selbststudium. Auf Twitter unter @acklotz und im Netz unter anneklotz.com zu finden.
Mehr als Wissenschaft. Für die Befreiung der Geschichte aus dem Elfenbeinturm.
Utopia. Die Zukünfte der Geschichtswissenschaft | Visionen und Positionen von Anne-Christin Klotz
Eine ganz persönliche Einleitung
Meine Eltern guckten nicht schlecht, als ich mich 2007 dazu entschloss, ein geisteswissenschaftliches Studium an der Freien Universität Berlin aufzunehmen, denn bis dahin hatte niemand in meiner Familie studiert – väterlicherseits wie mütterlicherseits. Meine Schwester hatte bereits als erste das Abitur erreicht, sich dann aber für eine Ausbildung entschieden. Ich selbst durfte erst nach zähem Ringen die Sekundarstufe II des örtlichen Gymnasiums besuchen. Vorher musste ich noch zusammen mit meinem Vater einen erniedrigenden Besuch beim Arbeitsamt in der 10. Klasse, bei dem mir nahegelegt wurde, doch direkt eine Ausbildung zu beginnen und am besten in einem klassischen Frauenberuf, über mich ergehen lassen. Als ich mich dann zum Studium bewarb, ahnte ich nicht, dass die gesellschaftliche Entwertung der Geisteswissenschaften und der neoliberale Umbau der Universitäten von humanistischen Bildungseinrichtungen hin zu marktwirtschaftlich orientierten Unternehmen bereits im vollen Gange war. Und ich ahnte auch nicht, dass meine Entscheidung für jemanden wie mich – Frau, Erststudentin, Zonenkind, links und feministisch – im Nachhinein mehr als naiv war.
Meine Eltern ahnten von dem Umbau der Universitäten zwar auch nichts, aber eines wussten sie als Arbeiter*innen aus der DDR doch mit Sicherheit: Geschichtswissenschaften sind eine brotlose Kunst. Aussagen meiner Mutter wie „Du wirst eines Tages noch unter der Brücke landen!“ bekam ich daher von Tag eins meines Studiums an regelmäßig zu hören. Was hätte ich aber auch machen sollen mit einer Abiturnote von 2,2? So etwas wie Medizin, Psychologie oder gar Jura erschien weder an meinem noch an dem Horizont meiner Eltern. Darüber hinaus hatten beide noch nie in ihrem Leben eine Universität von innen gesehen und konnten mich dementsprechend auch nicht beraten. Ich wusste nur eines: Ich mochte Geschichte schon in der Schule, hatte mich bereits als Teenager politisch-historisch in der Gedenkstättenarbeit und zahlreichen selbstorganisierten Workshops zu NS-Geschichte, Geschichte des Feminismus, Familienforschung und anderen Themen engagiert und war froh, dass ich überhaupt irgendeinen Studienplatz gefunden hatte und dann auch noch ganz in der Nähe von zuhause. Im Gegensatz zu meiner Familie war mir Bildung wichtig, ich wollte sie unbedingt und glaubte fest daran, dass sie mir nicht nur zum sozialen Aufstieg verhelfen, sondern dass ich damit auch die Welt ein Stück weit verändern würde.
Heute, 16 Jahre später und mit einem Bachelor- und Masterabschluss sowie mit einer Promotion in der Tasche, sitze ich in einem klimatisierten Büro der Hebräischen Universität in Jerusalem und kann zwar stolz auf das bereits Erreichte sein, doch gleichzeitig ist der Ruf von Geisteswissenschaftler*innen heutzutage wohl so schlecht wie nie zuvor. Verschrien als verkopfte und weltfremde Nerds, die nichts Neues erforschen, sondern den ganzen Tag nur herumsitzen, Texte über Bücher lesen, Bücher über Texte schreiben und Steuergelder verschwenden. Obwohl nichts davon wirklich der Realität entspricht, kommen doch auch mir selbst immer wieder solche und ähnliche Gedanken in den Kopf. Ist das, was ich mache, überhaupt relevant und gerechtfertigt? Oder hat meine Mutter Recht damit, wenn sie immer wieder behauptet, dass nur etwas dann von Wert sei, wenn man es mit den bloßen Händen produzieren kann? Für wen schreiben und beschreiben wir eigentlich Geschichte? Weshalb erforschen wir die Vergangenheit?
Die Diskussionen um die Frage „Wozu noch Geschichte?“ oder die Debatte über das Selbstverständnis des Verbands der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD), wie sie zuletzt auf dem Historikertag 2018 und 2021 öffentlich geführt wurde, geben Grund zur Sorge.[1] Nicht nur scheint es, als ob in der Historiker*innen-Community gänzlich unterschiedliche Auffassungen davon herrschen, was ein*e Historiker*in kann, darf und leisten sollte. Nicht wenige unter uns scheinen sich die Frage, wieso sie eigentlich tun, was sie tun, gar nicht erst (oder gar nicht mehr?) zu stellen. Viele scheinen sich in einer Art Hamsterrad zu befinden und gar nicht zu merken, dass sie nur noch innerhalb eines geschlossenen Eliteraums agieren und ihrer eigenen Karriere im System hinterherrennen. Dass es paradox ist, dass Historiker*innen in ihren Forschungsanträgen fast immer mit der Bedeutung ihrer Forschung für Öffentlichkeit und Gesellschaft argumentieren, die Ergebnisse derselben dort aber nahezu nie wirklich ankommen, scheinen sie entweder überhaupt nicht wahrzunehmen oder geschickt zu verdrängen. Das Fach Geschichte und seine gesellschaftliche Relevanz, sein Auftrag aufzuklären, Muster und Strukturen zu erkennen, sie zu dekonstruieren und daraus vielleicht sogar Handlungsempfehlungen für Gegenwart und Zukunft abzuleiten, verkommt damit zur Farce. Wenn aus dem ständigen Mantra des „Nie wieder!“ keine Praxis folgt, dann ist es nicht mehr wie eine leere Worthülse.
Bei mir selbst hat sich in den letzten Jahren eine zunehmende Enttäuschung oder besser eine Ernüchterung breitgemacht. Die oft beinharte Konkurrenz um die wenigen unbefristeten Stellen, das ermüdende Hangeln von einer befristeten Anstellung zur nächsten und die unzähligen Stunden, die man mit dem Schreiben von Anträgen, statt mit tatsächlicher Forschung beschäftigt ist, lassen oft nur wenig Raum für gesellschaftliches Engagement über den eigenen Tellerrand hinaus. Viele Historiker*innen hätten zu aktuellen politischen und sozialen Themen etwas Wichtiges beizutragen, aber sie haben weder die Zeit dazu, noch können sie sich sicher sein, dass ihnen dieses Hinausgehen über ihr absolutes Kerngeschäft bei der nächsten Bewerbung, beim nächsten Antrag, ihnen nicht zum Nachteil ausgelegt wird.
So wie die Gesellschaft und die Universität derzeit eingerichtet sind, müssen junge Studierende, wenn sie sich für ein Studium der Geschichte entscheiden, schon ein sehr hohes Maß an intrinsischer politischer oder moralischer Motivation mitbringen und idealerweise auch bereit sein, in Kauf zu nehmen, dass sie unter Umständen mit Mitte 40 arbeitslos und ohne nennenswerte Rentenansprüche oder Karriereoptionen jenseits des Quereinstiegs in den Schuldienst dastehen. Oder sie müssen halt aus einem reichen bis sehr reichen Elternhaus kommen.
Geschichte im freien Fall
Erst im Februar dieses Jahres hieß es in einem Artikel des US-amerikanischen Literatur- und Kulturmagazin The New Yorker, dass sich die Geisteswissenschaften in den USA spätestens seit der Weltwirtschaftskrise von 2007 „im freien Fall“ befänden und zahlreiche Universitäten, darunter auch solche aus der sogenannten Ivy-League, Einbrüche von bis zu 50 Prozent bei den Studierendenzahlen in ausgewählten geisteswissenschaftlichen Studiengängen verzeichnen würden.[2] Bereits 2019 hieß es, dass in den USA fast niemand mehr Geschichte studieren würde, was dazu führt, dass viele Universitäten keine Ausbildung mehr in dieser Disziplin anbieten, ganze Institute schließen müssen und hervorragend qualifizierte Historiker*innen plötzlich ohne Job dastehen.[3] Insbesondere Kinder aus Arbeiter- und kleinbürgerlichen Haushalten wählen Fächer, die vermeintlich sichere Karrierewege versprechen. In den USA spielen dabei mit Sicherheit auch die enormeren Studiengebühren eine nicht unerhebliche Rolle, und doch ist der Trend kein rein amerikanischer.
Auch in Deutschland sind die Studierendenzahlen in den Geisteswissenschaften, darunter Geschichte und viele der sogenannten Orchideenfächern seit Jahren rückläufig.[4] Und es scheint, dass sich auch hier insbesondere Erstakademikerkinder immer seltener für ein Studium in den Geisteswissenschaften entscheiden. Man studiert lieber etwas, das Sicherheit und Geld verspricht und außerdem auf ein klar umrissenes Berufsfeld abzielt. Diese Stoßrichtung wird so auch von der Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) immer wieder kommuniziert: Studieren und Forschung ja, aber bitte am liebsten nur in den MINT-Fächern. Auch bei ihrem dreitägigen Israelbesuch Mitte Juli traf sie sich fast ausschließlich mit Wissenschaftsorganisationen und Vertreter*innen aus eben jenen Forschungsfeldern und eben nicht mit Historiker*innen oder anderen Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen, obwohl gerade viele von diesen die aktuellen Proteste gegen die Justizreform mitanführen.[5]
In der deutschen Gesellschaft jedoch scheint der Wunsch, die Gegenwart durch die Vergangenheit zu verstehen, nach wie vor stark ausgeprägt zu sein – gerade auch und unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, unter denen sich seit geraumer Zeit ein Trend zu einer stärkeren Politisierung abzeichnet. Aktuellen Umfragen zufolge hat z.B. das Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus unter 19- bis 25-Jährigen während der Pandemie erstmals seit langem wieder zugenommen.[6] Auch das Interesse an queerer und (post-)migrantischer Geschichte sowie an der Auseinandersetzung mit der Zeit und den Folgen des Kolonialismus wächst stetig. Darauf verweisen nicht zuletzt die zahlreichen Podcasts zu sozialkritischen und historischen Themen,[7] Museumsausstellungen und Dokumentationen auf Netflix zu queerer Geschichte[8] oder auch der Erfolg von History-Influencer*innen in den Sozialen Medien. Kanäle auf YouTube und TikTok, die versuchen, jungen Menschen geschichtliche Inhalte zu vermitteln, erfreuen sich großer Beliebtheit. Zahlen von über einer Million Abonnent*innen, wie sie aktuell beispielsweise der YouTube Channel „MrWissen2Go Geschichte“ des Journalisten Mirko Drotschmann aufweist, sind keine Seltenheit.[9]
Auffällig abwesend bei alledem ist allerdings vor allem eines: die universitär verankerte Geschichtswissenschaft. Ein Gutteil der Angebote wird wie ab den 1980ern in den Geschichtswerkstätten von interessierten Laien oder aber von studierten Historiker*innen getragen, die die Akademie aus unterschiedlichen Gründen verlassen haben und heute in den Medien, der politischen Bildung oder bei zivilgesellschaftlichen Organisationen arbeiten.
Gleichzeitig stehen die Geisteswissenschaften und damit ihre Wissenschaftler*innen erheblich unter Zugzwang. Der Druck, der von den Universitätsleitungen auf Institute und Lehrstühle ausgeübt wird, die schwächelnden Geisteswissenschaften zu vermarkten sowie ständig neue Forschungsprojekte und -zweige zu generieren, ist hoch. Sie wollen hohe Doktorand*innen- und Studierendenzahlen sehen, andernfalls droht die Schließung. Hinzu kommen die sowieso schon problematischen Arbeitsverhältnisse an deutschen Universitäten, die sich insbesondere auf das Leben und die Forschung von jüngeren Wissenschaftler*innen negativ auswirken. Die fortschreitende Ökonomisierung und die damit einhergehende fehlende Planbarkeit der Karriere sind weitere gute Gründe, sich gegen ein geisteswissenschaftliches Studium und eine akademische Karriere zu entscheiden. Die deutsche Universität ist ein von Herrschaft durchzogenes System, das sich hierarchisch und feudal im Sinne persönlicher unauflöslicher Abhängigkeiten organisiert und das bereits Privilegierte (in der Regel alte weiße Männer) stützt und fördert, während es strukturell benachteiligte Gruppen (Studierende, Wissenschaftler*innen im Mittelbau, aber besonders Frauen, People of Color, Migrant*innen, Wissenschaftler*innen ohne EU-Staatsbürgerschaft, Menschen mit Behinderung, Arbeiterkinder) in prekärer Abhängigkeit und in Konkurrenz zueinander hält. Die Geschehnisse an den Berliner Universitäten, die in den vergangenen Tagen offengelegt wurden, haben das Ausmaß der Missstände erneut vor Augen geführt.[10]
Dass die Universität in einem solchen Klima, in dem selbst die eigene körperliche Unversehrtheit keine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, nur selten ein Ort ist, an dem offen revolutionäre, fachliche Gewissheiten aktiv hinterfragende Gedanken geäußert werden, ist wenig verwunderlich. Doktorand*innen wird empfohlen, sich „kleine“ und „sichere“ Themen zu suchen, wie z.B. eine weitere Biographie über irgendeinen Mann aus gutem Hause, dessen Leben und Wirken sich kaum von dem Hunderter anderer unterschied, über die bereits wissenschaftliche Biographien geschrieben worden sind. Radikalere Ideen werden abgeschwächt, die Forschung den neuesten Trends und Schlagwörtern, vor allem aber den Vorlieben von Geldgeber*innen und Professor*innen unterworfen. Vielleicht auch deswegen scheint die Geschichtswissenschaft immer weiter aus der gesellschaftlichen Debatte zu verschwinden. Jenseits der nach wie vor wichtigen Auftragsforschung zur Verstrickung verschiedener Firmen und Organisationen in die Verbrechen des Nationalsozialismus und/oder des Kolonialismus finden die Ergebnisse historiographischer Untersuchungen scheinbar immer seltener ihren Weg in die breite Öffentlichkeit. Das liegt sicher auch daran, dass nur noch wenige Journalist*innen von ihren Redaktionen die Zeit zugestanden bekommen, sich durch fünfhundertseitige Monographien zu wälzen.
Noch mehr jedoch scheint es daran zu liegen, dass die Historiker*innen selbst eher wenig von sich aus in gesellschaftliche Diskurse intervenieren. Bahnbrechende Forschung wird somit nur selten über das eigene Fach hinaus wahrgenommen. Dies ist umso tragischer, weil doch der ursprüngliche Zweck der Geisteswissenschaften, gesellschaftlicher Theorien und damit auch des Faches Geschichte darin besteht, „von den Handlungs- und Selbsteinschätzungslogiken der Akteure zu abstrahieren, um ihnen kollektive und individuelle Alternativen des Handelns und des Wahrnehmens aufzuzeigen, damit sie ihre Rolle in der Welt vielleicht nicht nur überdenken, sondern vielleicht sogar aktiv umgestalten“, wie es der französische Soziologe Didier Eribon einmal treffend ausdrückte.[11]
Hinzu kommt, dass die deutsche Gesellschaft zwar längst zu einer Einwanderungsgesellschaft geworden ist, sich diese Tatsache jedoch kaum in der Personalstruktur und zum Teil auch nur wenig bis gar nicht in der Zusammensetzung der Studierendenschaft in den Geisteswissenschaften widerspiegelt. Auch Untersuchungen der letzten Jahre zeigen, dass nach einer kurzen Phase der sozialen Durchlässigkeit, ein Aufstieg durch Bildung insgesamt immer seltener wird.[12]. Universitäten, insbesondere auf der Ebene der Führungsschicht sind damit weiterhin ein primär geschlossener bürgerlicher Raum, also ein Raum für mehrheitlich bildungsbürgerliche, weiße und männliche Deutsche ohne eigene oder familiäre Migrationsgeschichte.[13]
Kurzum, die Universität und damit insbesondere auch die Geschichtswissenschaften befinden sich in einer sich selbst verstärkenden Krise. Die Fakten sind uns allen nur allzu gut bekannt. Was aber bedeutet es nun, wenn immer weniger Menschen Geschichte studieren? Und was bedeutet es, wenn Geschichte nur von den Eliten geschrieben wird? Welche Auswirkungen hat es auf die Gesellschaft und was können wir als Historiker*innen tun, damit unser Forschen, Lehren und Lernen offener, pluralistischer, attraktiver und so in der Folge auch wieder relevanter wird?
Solidarisch und Pluralistisch
Die deutsche Geschichtswissenschaft muss sich hinsichtlich ihrer Personalstruktur erneuern, wenn sie weiterhin gesellschaftlich relevant sein möchte, denn es fehlt an Repräsentant*innen und Stimmen, die die deutsche Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfältigkeit abbilden.V[14] Aus der eigenen Biographie und sozialen Position heraus begründete, neue Perspektiven sind eine Bereicherung für das Fach. Gleichzeitig braucht es Vorbilder, deren Anwesenheit und Erfolge im Feld für Angehörige unterrepräsentierter und marginalisierter Gruppen ein Studium der Geschichte und eine Karriere an der Universität als Geschichtswissenschaftler*in überhaupt erst realistisch erscheinen lassen.
Es kann beispielsweise nicht sein, dass auch im Jahr 2023 Frauen in Führungspositionen an Universitäten noch immer massiv unterrepräsentiert sind, wie der aktuelle Report der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz (GWK) über Chancengleichheit und Forschung belegt.[15]Zwar hat die Zahl von Frauen, die sich habilitieren im letzten Jahr erneut leicht zugenommen und auch Juniorprofessuren werden offenbar in erster Linie mit Frauen besetzt. In den Ebenen darüber jedoch, also vor allem bei den W2-/W3-Professuren und auf Leitungsstellen, sind sie weiterhin massiv unterrepräsentiert, was umso mehr ein Problem ist, da gleichzeitig viele Juniorprofessuren befristet sind. Die Glasdecke mag etwas höher gerutscht sein, aber sie ist noch immer da.
Dieses Problem betrifft sowohl den akademischen Betrieb als Ganzes, als auch die Geschichtswissenschaften im Speziellen. In beiden Fällen liegt die Ursache nicht in der fehlenden wissenschaftlichen Qualifikation der Wissenschaftlerinnen, sondern in bereits vor Jahrzehnten ausschließlich von Männern geprägten und bis heute kaum hinterfragt tradierten Fachkulturen, ebenfalls seit Jahrzehnten und in der Regeln aus Männern bestehenden Karrierenetzwerken und einem Universitätssystem, das Frauen aktiv daran hindert, eine akademische Karriere anzustreben, nicht zuletzt weil Schwangerschaft und Kinderbekommen in der Praxis häufig einen Karriereknick, wenn nicht das Karriereende bedeuten.[16]
Allen Widrigkeiten zum Trotz zeichnet sich jedoch in den letzten Jahren eine langsame Trendwende ab: So betritt derzeit eine neue Forscher*innengeneration die Fachbühne, die oftmals in politischen oder gewerkschaftlichen Gruppen, durch aktuelle politische Krisen und nicht zuletzt durch die „#IchBinHanna“-Bewegung sozialisiert wurden und werden bzw. diese selbst mitprägen. Sie tragen ein neues politisches Bewusstsein in die Geschichtswissenschaften und brechen mit der lange innerhalb des Fachs dominierenden Haltung, dass Wissenschaftler*innen immer objektiv und neutral sein müssen, obwohl doch gerade das Fach Geschichte ein zutiefst politisches ist und in Geschichte und Gegenwart regelmäßig für politische Zwecke instrumentalisiert wurde.
Zu oft sind Objektivität und Neutralität Begriffe, hinter denen man sich verschanzt, um niemandem und schon gar nicht den Altvorderen des Fachs, deren Forschung durch eine kritische Betrachtung in ein neues Licht gerückt werden würde, nicht auf die Füße zu treten. Ein Gutteil der historischen Forschung vergangener Jahrzehnte hat sich in der Zwischenzeit als eben gerade nicht objektiv und neutral, sondern viel mehr vom eurozentrischen und kolonial geprägten Zeitgeist geprägt herausgestellt.[17] Genauso wird ein Gutteil der heutigen Forschung, so neutral und objektiv er uns auch erscheinen mag, von zukünftigen Generationen als zum Teil von Fehlannahmen, Unwissen und Vorurteilen geprägt entlarvt werden. Das entwertet nicht diese Forschung im Jetzt, es zeigt nur, dass das Fach sich weiterentwickelt und neue Zeiten neue Perspektiven ermöglichen.
Die neue Generation von Forscher*innen verändert das Fach. Sie knüpft solidarische Netzwerke und fordert die hegemonialen Strukturen, die sich seit Jahrzehnten etabliert haben, heraus. Sie macht auf Missstände aufmerksam und zeigt problematische Machtstrukturen auf. Dass sie mit diesem ihrem Kampf um Anerkennung und Sichtbarkeit richtig liegen und sich die Selbstvernetzung u.a. über soziale Medien lohnt, zeigen erste Erfolge: So führte der VHD, im Nachgang massiver Kritik seitens der Promovierenden über fehlende Sichtbarkeit und Wertschätzung, eine eigene Vertretung für die Statusgruppe der Doktorand*innen sowie eine für Post-Docs im Mitgliederausschuss ein.[18]
Gleichzeitig sind aber auch die Professor*innen angehalten, ihr Verhalten zu ändern und ebenfalls über neue Arbeitsstrukturen nachzudenken. Die negative Fachkultur, in der sich jüngere Kolleg*innen erst „beweisen“ müssen, wenn sie wahr- und ernstgenommen werden wollen, sollte durch eine positivere, wertschätzendere ausgetauscht werden. In den USA gehört man mit Mitte 20 bereits zur faculty, in Deutschland gilt man mit Mitte 40 noch als „Nachwuchs“.
Dabei sind es oft die Jungen, die mit neuen Gedanken und neuer Forschung das Feld voranbringen. Jüngeren und marginalisierten Forschenden sollte daher viel öfter als bisher üblich die Bühne überlassen werden. Ihre Forschung, ihre Erfahrungen und ihre Meinungen sollten und müssen mehr Raum bekommen. Professor*innen sollten daher häufiger aktiv und bewusst bei Anfragen zu Paneldiskussionen, bei Vorträgen oder Interviews auf ihre jüngeren Kolleg*innen im Fach verweisen und ihnen den Vortritt lassen. Dazu gehört auch, dass beispielsweise die Bewerbungsmöglichkeiten zum Historiker*innentag niedrigschwelliger gestaltet werden und eine erfolgreiche Bewerbung jenseits von thematischen Sektionen ermöglichen. Sind es doch gerade diese starren Vorgaben, die es jungen Wissenschaftler*innen besonders schwer machen ein innovatives Vortragsthema oder eine eigene Sektion unabhängig von den professoralen Kontakten zu platzieren. Ebenso sollten Professor*innen und andere Wissenschaftler*innen in einflussreichen Positionen in Auswahlgremien für Stellenbesetzungen nicht nur aktiv darauf hinwirken, Führungspositionen mit unterrepräsentierten Kolleg*innen zu besetzen, sondern auch aktiv nach diesen Ausschau halten und sie dazu ermutigen, sich zu bewerben.
Interdisziplinär und Intersektional
Die deutsche Geschichtswissenschaft muss sich hinsichtlich ihrer methodischen und thematischen Zugänge und Strukturen erneuern und vervielfältigen, wenn sie weiterhin von gesellschaftlicher Relevanz sein möchte. Auch braucht sie mehr Mut zu großen Themen, die sich auf der Höhe der Zeit bewegen, aktuelle Diskurse aufgreifen und interdisziplinär wie intersektional denken. Darauf haben bereits mit Nachdruck Katharina Seibert und Elisa Satjukow in ihrem Beitrag vom Juli 2023 hingewiesen und hervorragend beschrieben, wie dies aussehen könnte.[19] Als Historikerin mit einem Forschungsschwerpunkt auf der Geschichte des östlichen Europas sowie auf jüdischer Geschichte, wurde ich bereits im Studium damit konfrontiert, dass beidem nur eine Randexistenz in der „Allgemeinen Geschichte“ zugebilligt wird, unter der ja in der Regel und völlig objektiv und neutral in erster Linie die deutsche bzw. die westliche Geschichte verstanden wird.
Die starre Kategorisierung der Geschichte in Epochen, in Haupt- und Nebendisziplinen und Regionen aber versperrt uns oftmals den Blick auf die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, auf die Perspektiven und Erfahrungen der Vielen, der Subalternen, der Marginalisierten, der Unsichtbaren, derjenigen in der Peripherie. Geschichte bedeutet auch zu dekonstruieren, zu verschieben, zu erneuern, umzuschreiben. So waren es insbesondere Impulse aus den sogenannten „kleinen“ Nebenfächern, den Osteuropastudien, den Gender Studies oder Middle Eastern Studies, die die „Allgemeine Geschichte“ in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit neuen Theorieansätzen wie den Postcolonial Studies, Imperial Studies oder intersektionalen Fragestellungen konfrontiert haben. Wie Katharina Seibert und Elisa Satjukow bereits schrieben, sind es doch aber gerade die Blicke von außen und durch Außen, die das eigene Selbst und seine Verortung in der Welt schärfen.
Wie überholt eine Einteilung in vermeintliche Haupt- und Nebenschauplätze ist, zeigt uns die Gegenwart. Schon lange lässt sich die schon immer falsche Sichtweise, der Westen sei das Zentrum der Welt, nicht mehr aufrechterhalten. Peter Frankopan verlegte mit seinem Buch „Licht aus dem Osten“ das Herz der Welt in die Steppen Zentralasiens und fand gute Argumente dafür.[20] Auch wenn das Buch in der deutschen wie internationalen Fachschaft von einigen für etwaige Ungenauigkeiten und blinde Flecke kritisiert wurde,[21] hat der britische Historiker doch mehr als nur einen gewichtigen Punkt getroffen.
Noch richtiger und realistischer wäre es wohl aber doch von einer Welt mit vielen Herzen zu sprechen, die mal im Takt schlagen und mal nicht. Unter Barack Obama richteten die USA ihren Blick zunehmend Richtung Asien. Der Pazifik galt vielen als neue Mitte der Welt. Der Aufstieg Indiens, immerhin seit diesem Jahr das bevölkerungsreichste Land der Welt, lässt die Blicke noch weiter in Richtung Indischer Ozean schweifen. Von Osten aus betrachtet ist Deutschland nur das unbedeutendere hinterletzte Ende der Seidenstraße. Und wie anders die Bedeutung dessen, was in Europa geschieht und für uns hier naheliegender Weise von ausgesprochener Dringlichkeit ist, in anderen Teilen der Welt ausfallen kann, zeigt aktuell und höchst eindringlich der russische Angriffskrieg in der Ukraine, bei dem es für weite Teile der Welt weniger um die Menschen, die Krim und den Donbas, als vielmehr um den Preis von Öl und Getreide geht.
Dementsprechend sollten auch geschichtswissenschaftliche Institute und Departments ihre Forschungsschwerpunkte und Strukturen anpassen. Dabei sollte nicht nur eine Gleichstellung der verschiedenen Regionen erfolgen, sondern auch eine interdisziplinäre Öffnung angestrebt werden. Geschichtswissenschaftler*innen sollten deutlich häufiger Projekte zusammen mit Sozial- und Politikwissenschaftler*innen, mit Psycholog*innen, Pädagog*innen und Informationswissenschaftler*innen anstoßen und die Erforschung von Geschichte und Gegenwart zusammen betreiben. Denn Historiker*innen sprechen zwar oft davon, dass man nur aus der Geschichte heraus die Gegenwart verstehen kann, zu einer wirklichen Transferleistung kommt es jedoch nur höchstselten. Gleichzeitig mangelt es politik- oder sozialwissenschaftlichen Studien oftmals an einer kritischen historischen Kontextualisierung, die helfen könnte, bestimmte Entwicklungen in der Gegenwart besser zu verstehen und zeitgenössische Phänomene, wie beispielsweise den aktuellen Rechtsruck in Europa oder die feministischen Kämpfe um das Recht auf Abtreibung in den USA richtig, einzuordnen.
Engagiert und Meinungsstark
Historiker*innen in Deutschland müssen sich stärker in den öffentlichen Diskurs einbringen und sich (wieder) vermehrt als Public Intellectual begreifen, wenn sie weiterhin als relevant wahrgenommen werden wollen. Eine der Kernaufgaben der Geschichtswissenschaften ist es, Gesellschaften über sich selbst aufzuklären. Diese Aufklärung aber erreicht heute nur noch selten bis gar nie ihre Adressat*innen, sprich die Menschen, die die jeweilige Gesellschaft bilden. Historiker*innen müssen raus aus dem Elfenbeinturm, in dem sie sich verschanzt haben, und wieder Anschluss finden an die Gesellschaft und an die Öffentlichkeit, aus der sie sich in den letzten Dekaden immer weiter zurückgezogen hat. Entsprechend selten finden Forschungsergebnisse Eingang in die mediale Berichterstattung, und falls doch, dann oftmals nur in Form von Beiträgen älterer (westdeutscher) Professor*innen im Feuilleton der FAZ.
Die breite Öffentlichkeit wird so ganz sicher nicht erreicht, und das ist durchaus ein Problem. Auch Dissertationen und Habilitationsschriften, die nicht selten wichtige Monografien darstellen, werden zwar als Bücher gedruckt, häufig aber nur in sehr geringer Auflage, und die Preise sind meist so absurd hoch, dass es kein Wunder ist, dass sie jenseits von Fachbibliotheken kaum ein Publikum finden. Auf dem anglo-amerikanischen oder auch dem polnischen Buchmarkt läuft es gänzlich anders. Während in den USA Historiker*innen ihre Buchmanuskripte vor Drucklegung oft mit Blick auf ein breiteres Publikum umschreiben, sind Historiker*innen in Deutschland angehalten, möglichst schnell und nur für die eigene Peergroup zu publizieren. Ironischerweise erreichen in Deutschland so fast ausschließlich Dissertationen von Historiker*innen eine größere Reichweite, die mit einer akademischen Karriere bereits abgeschlossen haben und die es sich daher leisten können, ihr Buch in überarbeiteter Form und zu einem erschwinglichen Preis bei einem Verlag jenseits des Oligopols der etablierten Wissenschaftsverlage zu veröffentlichen.
Doch auch die jährlich zu Tausenden erscheinenden Fachartikel in Journals und Sammelbänden werden in der Regel kaum gelesen und schon gar nicht über die eigene kleine Fachcommunity hinaus rezipiert. Obwohl sie häufig wichtige Forschungsergebnisse enthalten, werden sie im Endeffekt oft eher für die eigene Publikationsliste als für ein tatsächliches Publikum geschrieben. Somit verschwindet ein Großteil der Forschung in den Regalen von spezialisierten Fachbibliotheken, falls sie nicht gleich ganz in der Schublade des heimischen Schreibtisches versauert. Gleiches gilt für die im Fach etablierten Präsentationsformate. Man hetzt von Konferenz zu Konferenz, von Colloquium zu Colloquium und von Abendvortrag zu Abendvortrag und spricht am Ende doch immer nur vor denselben paar Kolleg*innen. Selbst die größten und bestetablierten Konferenzen finden oftmals jenseits jeder öffentlichen Wahrnehmung statt und auch Vorträge, die sich eigentlich an ein Publikum jenseits des Fachs richten, werden meist nur fachöffentlich beworben und erreichen oft nur dann überhaupt Fachfremde, wenn die Vortragenden selbst Freund*innen oder Familie mitbringen.
Öffentlichkeitswirksame und zielgruppengerechte Aufklärung und Wissensvermittlung betreiben indes andere. Dabei handelt es sich jedoch nur selten um ausgebildete Historiker*innen, wie auch bereits Tabea Henn in ihrem Beitrag festgestellt hat.[22] Während Historiker*innen also Paper um Paper und Antrag um Antrag schreiben, um sich weiterhin im System halten zu können, sind es meist Journalist*innen und historisch-politische Bildungspädagog*innen, die erfolgreiche Podcasts und Twitter-Accounts betreiben, interaktive Führungen gestalten oder Ausstellungen konzipieren und damit ganz nebenbei die gesellschaftlichen Diskurse prägen.
Es stellt sich also die Frage, ob die Arten und Weisen, wie Wissenschaftskommunikation in den Geisteswissenschaften funktioniert, wirklich noch zeitgemäß ist und ob sich Historiker*innen nicht einen großen Gefallen tun würden, wenn sie neue, in der Regel interaktive Medien stärker in ihre Arbeit einbeziehen und sie anderen, bereits etablierten Formen der Wissensvermittlung gleichstellen würden. Ein Umdenken würde hier nicht nur dem Fach insgesamt guttun. Letztlich würden die jeweiligen Historiker*innen sich auch auf individueller Ebene ein Stück weit unabhängiger vom akademischen Markt machen und den Verlagen, die ihre Hand über die so wichtigen Peer-Review-Journals halten, etwas von ihrer Macht nehmen.
Die kommunikativen Regeln der Öffentlichkeit und öffentlicher Diskurse wurden durch das Aufkommen der sozialen Medien grundlegend geändert. Wenn die Geisteswissenschaften hier am Ball bleiben wollen und ihren Auftrag der Bildung und Aufklärung in Form ernst gemeinter Wissenschaftskommunikation nachkommen wollen, dann müssen die einzelnen Historiker*innen darin unterstützt werden. Wissenschaftskommunikation sollte daher fester Bestandteil der akademischen Ausbildung nicht nur in den Geschichtswissenschaften sein, wie auch bereits Phillip Janssen forderte.[23] Dabei können Wissenschaftler*innen viel von ihren Kolleg*innen aus der historisch-politischen Bildung, den Schulen und der Public History lernen. Aus diesem Grund ist es auch dringend notwendig, dass es wieder verstärkt zu gemeinsamen Konferenzen und Veranstaltungen kommt, um voneinander zu lernen und um Synergieeffekte zu erzielen. So wäre es z. B. denkbar, dass der Verband deutscher Historiker und Historikerinnen viel stärker als bisher seine Konferenzen in Allianz mit Bibliothekar*innen, Archivar*innen und historisch-politischen Bildungspädagog*innen aus Museen, Gedenkstätten und Schulen gestaltet.
Gerade in turbulenten Zeiten wie diesen können und sollten Historiker*innen dazu ausgebildet und darin unterstützt werden, sich öffentlich im Rahmen ihrer Expertise zu äußern und im Zweifel auch mal meinungsstark zu positionieren. Beispiele wie Polen und Ungarn zeigen, dass kritische Wissenschaft nicht selbstverständlich ist und Freiheiten sehr schnell verloren gehen können, wenn sie nicht verteidigt werden. Die deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften existieren und agieren nicht in einem Vakuum. Historiker*innen sollten sich daher auch endlich von der Behauptung emanzipieren, dass Wissenschaft objektiv und Forscher*innen neutral seien. Gerade in Deutschland, wo historische Forschung so oft schon für politische Zwecke missbraucht wurde, ist das Festhalten an dieser Vorstellung bizarr. Wissenschaft ist niemals vollkommen objektiv oder gar neutral. Sie kann es auch gar nicht sein, denn jede*r betritt das Fach mit jeweils eigenen subjektiven und bewussten wie unbewussten politischen Erfahrungs- und Erwartungshorizonten, die aus der individuellen Sozialisation und der Position in der Gesellschaft hervorgehen. Die Arbeit und das historische Narrativ, dem sie folgen und an dem sie mitschreiben, wird wesentlich durch diese geprägt. Wer dies leugnet, ist nicht etwa neutraler oder objektiver, sondern beraubt sich viel mehr jeder Möglichkeit die eigenen Vorannahmen und Perspektiven kritisch zu hinterfragen.
Auch die Einstellung, dass Wissenschaftler*innen keine Aktivist*innen mit politischer Haltung sein dürften, ist damit im Grunde unhaltbar, da sie im Grunde nichts anderes fordert, als aus den eigenen Erkenntnissen und der eigenen Expertise keine praktischen Schlüsse zu ziehen. Dass sich dieser dabei stets in einem demokratischen Rahmen bewegen sollte und niemals die Grenzen der Diskriminierung überschreiten sollte, erklärt sich von selbst. In anderen Ländern wie den USA oder auch in Israel ist es beispielsweise viel verbreiteter, sich auch als Geisteswissenschaftler*in öffentlich in Form von Op-Eds in Zeitungen breitenwirksam zu äußern. Ganz in diesem Sinne forderte auch 2019 die Historikerin und Aktivistin Andrea Petö, dass sich Wissenschaftler*innen und Intellektuelle auch in Europa viel stärker in öffentliche Debatten einmischen sollten.[24] Petö weiß, wovon sie spricht. Sie und die Central European University, an der sie lehrt, sind kurz nach Erscheinen des Interviews von Budapest nach Wien abgewandert. Vorausgegangen war eine mit antisemitischen Untertönen versehene antifeministische und antiliberale Hetzkampagne der ungarischen Regierung gegen die von George Soros gestiftete private Hochschule.
Die deutsche Geschichtswissenschaft kann und sollte hier noch mehr leisten. Die Historikerin Franziska Davies, die seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine regelmäßig in den traditionellen wie sozialen Medien Stellung bezieht und aufklärt, kann hier als Vorbild dafür gelten, wie es gelingen kann, durch andauernde und akribische Wissenschaftskommunikation Menschen aufzuklären. Doch auch Journalist*innen sind angehalten besser und intensiver zu recherchieren, um nicht immer nur die üblichen Verdächtigen einzuladen, die in der Fachcommunity selbst oft nicht als Expert*innen gelten. Projekte wie „Wissenschaftlerinnen in die Medien“ von der FH Potsdam machen es heute einfacher denn je.
Raus aus dem Elfenbeinturm! – Geschichte für Menschen, nicht für Projektanträge
Fazit: Die Geschichtswissenschaften in Deutschland haben sich weitgehend selbst ins Abseits gestellt, weil sie kaum noch einen öffentlichen Resonanzboden haben. Viele Historiker*innen arbeiten vor sich hin, publizieren nur noch für die eigene Fachcommunity bzw. manchmal sogar nur für die eigene Schublade, schreiben Projektanträge nach dem Gusto der Förderer*innen und gründen Institute, um diese nach kurzer Zeit wieder schließen zu müssen, weil es nach der Anschubfinanzierung nicht weitergeht. Dadurch sind die Geschichtswissenschaften im Laufe der Jahre zu einer zunehmend geschlossenen Gesellschaft worden. Was an deutschen Hochschulen an den geschichtswissenschaftlichen Instituten geforscht wird, erreicht nur in Ausnahmefällen die Welt außerhalb der universitären Mauern.
Das Fach muss sich wieder öffnen, sich der Welt zuwenden und mit seiner Umwelt ins Gespräch kommen. Denn Wissenschaft und Gesellschaft brauchen einander und beeinflussen sich wechselseitig. Versucht man aber, die Geschichtswissenschaft von der Gesellschaft abzukoppeln, erstarrt diese. Geschichtswissenschaftler*innen jedoch sind Multiplikator*innen und sollten sich auch als solche verstehen, denn sie haben einen Bildungsauftrag, der weit über die Ausbildung von Studierenden in ihren Seminaren hinausreicht.
Eine Geschichtswissenschaft, die der Gesellschaft hilft, sich selbst zu verstehen, wird sich um die Zahl der Studierenden und die Finanzierung ihrer Forschung keine Sorgen machen müssen.
Gesellschaftliche Relevanz ist die beste Versicherung gegen die zweckrationale Wegrationalisierung.
Nachweise
„Wozu noch Geschichte? Der Geschichtstalk auf dem Historikertag 2018 in Münster“, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/gts7000_historikertag18 sowie Podiumsdiskussion zum Selbstverständnis des VHD und der verabschiedeten Resolution: „(Un-)Politisch? Eine Diskussion über die Herausforderungen der Geschichtswissenschaft heute“, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/resolution_vhd (letzter Zugriff 27. 07. 2023).